Der Mann, der Putin die Grenzen aufzeigt – landeszeitung.de

Die Nato hat in Belgien, militärische Laien wissen das gar nicht, zwei Hauptquartiere. Nur eins davon, das politische, ist öfter im Fernsehen zu sehen. Vor die Weltmedien tritt dort stets Generalsekretär Jens Stoltenberg, der Norweger, der seit 2014 das Bündnis zusammenhält.

Das andere Hauptquartier, das militärische, ist ein stiller Ort. Hier werden keine Fragen gestellt und auch keine Antworten gegeben. Es liegt eine gute Autostunde von Brüssel entfernt, in Mons.

Das „Supreme Headquarters Allied Powers Europe“ (SHAPE) ist das eigentliche Nervenzentrum der Allianz. In seinem Inneren laufen derzeit, während draußen Wachen mit automatischen Waffen patrouillieren, militärisch relevante Daten aus der Ukraine zusammen. Rund um die Uhr wird geprüft: Passiert in der von Wladimir Putin geschaffenen Kriegszone gerade etwas ganz Ungewöhnliches? Und wenn ja: Ist es etwas, worauf die Nato reagieren muss – womöglich sogar sofort?

Regie in Mons führt der „Supreme Allied Commander Europe“ (Saceur). Im Juli nahm auf dessen Sessel ein kahlköpfiger Vier-Sterne-General mit sanften dunklen Augen Platz, der Amerikaner Christopher Cavoli. Ausgewählt für den Posten hatte ihn US-Präsident Joe Biden.

Seit dem Zweiten Weltkrieg wurde keinem US-General so viel Verantwortung zugemutet wie Cavoli – einem Mann, der für die meisten Menschen in Europa ein Unbekannter geblieben ist. Das dürfte auch so bleiben. Cavoli akzeptiert seine dienende Funktion, er drängt nicht in die Medien. Schon gar nicht jetzt, in dieser Lage.

Experte für Regenwürmer – und für Russland

Cavoli hat inzwischen viele Fans in Europa. Denn er ist ein bisschen anders als andere amerikanische Offiziere: feinsinniger, tiefgründiger, vor allem aber alles andere als ein polternder Europa-Banause.

Eine SHAPE-Mitarbeiterin lobt Cavoli als „sehr besonderen Chef“. Ein US-Offizier, der in Mons mehrere Oberbefehlshaber hat kommen und gehen sehen, findet nicht allein Cavolis Intelligenz beeindruckend, sondern vor allem seinen Charakter: „Er ist ein Intellektueller, aber einer, der andere nicht etwa seine Überlegenheit spüren lässt, sondern sich um die Menschen kümmert, sich in sie einfühlt.“

Das Anderssein von Cavoli beginnt schon damit, dass er nicht an einer Militärakademie gestartet ist, sondern Biologie studiert hat. Im Jahr 1987 schrieb er eine wissenschaftliche Arbeit an der Universität Princeton über den „Effekt von Regenwürmern auf die vertikale Ausbreitung von Schleimpilzen im Boden“. Später, an der Universität Yale, studierte er Russisch und Osteuropakunde. Am Ende verschlug es ihn dann doch zur Armee, die ihm interessante Posten bot. Zeitweise arbeitete er als Russland-Direktor im Pentagon.

In der Nato gehört Cavoli heute zum kleinen Kreis von Militärs, die ohne Übersetzer Putin verstehen. Französisch spricht er auch. Hinzu kommt das Italienische, die Sprache seiner Vorfahren, die als Einwanderer in die USA gekommen waren. Geboren wurde Cavoli 1964 in Würzburg, zwei Jahre nach der Kubakrise. Sein Vater diente im Kalten Krieg als amerikanischer Soldat in Deutschland.

Jetzt, sechs Jahrzehnte später, fällt Europa zurück in einen neuen kalten Krieg. Und Cavoli ist der Mann, der in diesen Tagen einem aggressiv gewordenen russischen Staatschef im wahrsten Sinne des Wortes die Grenzen zeigt, vom Baltikum bis zur rumänischen Schwarzmeerküste.

Drei Punkte – und eine große Grauzone

Cavoli kennt seinen Auftrag. Er hat mit dem US-Präsidenten darüber gesprochen, mit dem amerikanischen Verteidigungsminister Lloyd Austin und natürlich mit Nato-Generalsekretär Stoltenberg. Im Kern geht es um drei Punkte.

Das Bündnis soll, erstens, den festen Willen markieren, das eigene Territorium zu verteidigen. Die 60 Nato-Flugzeuge etwa, die bis zum 30. Oktober an der nuklearen Luftverteidigungsübung „Stead­fast Noon“ teilnahmen, darunter B-52-Bomber aus North Dakota, helfen beim Übermitteln dieser Botschaft an Moskau. In Rumänien, fünf Kilometer vor der Grenze zur Ukraine, ließ Cavoli jüngst die 101. Luftlandedivision der USA aus Kentucky in Stellung gehen, eine legendäre Elitetruppe, die zuletzt im Jahr 1944 nach Europa verlegt wurde. Zweitens soll die Nato der Ukraine helfen, sich innerhalb ihres Territoriums gegen die russischen Truppen zur Wehr zu setzen. Die Lieferung immer neuer westlicher Waffen wird von Cavoli dirigiert. In den Patch Barracks in Stuttgart-Vaihingen ließ Cavoli unter dem Dach einer Kaserne eine mit Computern vollgestopfte Clearingstelle einrichten, die den Transport von Waffen und Munition organisiert, rund 80.000 Tonnen wurden seither auf geheimen Wegen in die Ukraine gebracht. Bei all diesen Aktivitäten der Nato aber soll, Punkt drei, nichts geschehen, was zu einer direkten militärischen Konfrontation zwischen russischen und Nato-Truppen führen könnte – und damit zu einem neuen Weltkrieg.

In der Theorie erscheint dieser strategische Dreiklang wunderbar abgewogen und vernünftig. In der Praxis aber geraten die politischen und militärischen Entscheider der Nato mittlerweile ständig in Grauzonen. Niemand weiß, an welcher Stelle für Putin eine rote Linie überschritten sein könnte. Aber die Diskussionen über Waffenlieferungen nehmen kein Ende.

Ein unübersichtliches, mehrdimensionales Spiel

Braucht Kiew, wenn die Nato schon keine Flugzeuge liefert, nicht wenigstens größere Kampfdrohnen, etwa vom Typ Reaper? Umstritten ist auch, ob die Nato für die Himars-Raketenwerfer Geschosse mit weit größerer Reichweite zur Verfügung stellen soll. Auch bei der Weitergabe von Geheimdienstdaten wird es heikel. Jüngst wurde festgelegt, dass die westlichen Dienste zwar generell bei Schlägen gegen russische Kommandozentralen helfen sollen, nicht aber beim gezielten Vorgehen gegen einzelne russische Generäle. Jede neue Debatte führt auf ein neues Drahtseil.

Es ist ein unübersichtliches, mehrdimensionales Spiel, das da seit Monaten im Gang ist. Und es erfordert auf der Führungsebene der Nato vor allem eins: starke Nerven.

Cavoli, heißt es bei der Nato, strahle zum Glück stoische Ruhe aus. Viele rätseln, wie er das hinbekommt. Kollegen im Stab im Mons deuten auf seine körperliche Fitness, die er stetigem Training verdanke. Langjährige Freunde verweisen auf eine „gesunde Erdung durch seine Familie“, vor allem durch seine Frau.

Tatsächlich ist Cavoli ein Familienmensch. Zu seiner Anhörung im Verteidigungsausschuss des US-Senats Ende Mai brachte er auch seine Eltern mit. Und gleich zu Beginn schwärmte er von „Christina, die meine Frau und meine beste Freundin ist“ und die immer alles mitgemacht habe, die vielen Umzüge und Umbrüche.

„Eine echt sympathische Familie“

Im bayerischen Grafenwöhr sind die Cavolis als „echt sympathische Familie“ in Erinnerung, wie Einwohner berichten. Ehefrau Christina sah man regelmäßig auf dem Wochenmarkt, die beiden Jungs, Nick und Alex, im Waldfreibad.

Grafenwöhr ist die Heimat des größten und modernsten amerikanischen Truppenübungsplatzes außerhalb der USA. Cavoli diente hier von 2014 bis 2016. Er ließ sich ein auf bayerische Lebensart – und auf Details der Kommunalpolitik.

„Cavoli war der erste amerikanische General, der bei uns sogar mal in eine Stadtratssitzung kam“, berichtet Bürgermeister Edgar Knobloch. Beim traditionellen Fischerfest saßen Bürgermeister und General gemeinsam im Sautrog und paddelten zur Gaudi von Deutschen und US-Soldaten über den Weiher

Was kaum jemand weiß: Cavoli hatte schon in jener Zeit die Lage in der Ukraine messerscharf im Blick – und wurde zu einem Gegenspieler der Russen. Nach der Annexion der Krim gehörte er zum kleinen Kreis führender US-Militärs, die in diskreten Missionen die Fühler Richtung Kiew ausstreckten, auf der Suche nach einer Strategie gegen die damals in Europa noch vielfach unterschätzte Aggressivität Putins.

„Zooming in“ und „zooming out“

Mal Stadtratssitzung in der bayerischen Provinz, mal Weltpolitik: Cavoli-Fans bei der Nato sagen, ein Hin und Her zwischen „zooming in“ und „zooming out“ sei bis heute kennzeichnend für den General. Mal stelle er in einem Meeting die ganz großen globalen Zusammenhänge her. Dann wiederum bohre er sich in ein Detail hinein, etwa ein Logistikproblem, das irgendwo in Europa aufgetaucht ist. Wie zum Beispiel werden amerikanische Panzer weitertransportiert, nachdem sie etwa in Bremerhaven angekommen sind oder im griechischen Alexandroupolis? Und wie werden diese Transporte gegen Angriffe und Sabotage gesichert?

Die Verteidigung der Nato, predigt Cavoli seinen Leuten, werde im Ernstfall weniger von hochtrabenden strategischen Erwägungen abhängen als von so schlichten Dingen wie einem glatt laufenden Transport von Waffen und Fahrzeugen von den Seehäfen zu den sogenannten Bedarfspunkten.

„Down to earth“ nennen die Amerikaner Menschen, die, wie hoch auch immer sie steigen, bewusst die Bodenhaftung suchen, persönlich und thematisch. Ein solcher Typ ist auch der Regenwurmexperte Cavoli.

Zugleich aber lockt ihn offenbar das ganz große Spiel um die Macht in Europa. Zu den größten Trümpfen in Cavolis Hand gehört dabei eine überlegene westliche Technologie bei der Verschlüsselung der eigenen und der Entschlüsselung der gegnerischen Kommunikation. Dies wiederum lässt Spekulationen blühen: Hat Cavoli inzwischen eigene – auch für Putin unsichtbare – Drähte in Richtung hoher russischer Offiziere?

Cavoli schweigt dazu, auch sein Umfeld verweigert jeden Kommentar. Zu hören ist nur, dass Cavoli auf sein Team eine beeindruckende Zuversicht ausstrahle: „Er wirkt, als wolle er sagen: Mit diesem Putin werden wir schon noch fertig.“

Von Matthias Koch/RND