Kein bisschen Frieden: Warum es Pazifismus in Deutschland derzeit schwer hat – landeszeitung.de

Berlin. Hermann Gröhe bringt es vor den Teilnehmern der Synode der Evangelische Kirche Deutschlands (EKD) auf den Punkt. Pazifistische Positionen, sagt der stellvertretende Vorsitzende der CDU-Bundestagsfraktion und frühere Bundesminister, gehörten selbstverständlich „zu uns als Christinnen und Christen“. Innerhalb der Kirche hätten es andere Haltungen als diese jedoch seit 30 Jahren schwer gehabt.

Gröhe sagt deshalb in Magdeburg auch: Er könne alle Friedensgebete mitbeten, müsse ihnen aber auch die Bitte hinzufügen, dass die Befreiung der ukrainischen Stadt Cherson bis zum Winter gelinge. Was er meint: auch mit Einsatz von Waffengewalt.

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Vor einem Jahr noch hätte niemand geglaubt, dass es das Kirchenparlament für nötig erachten würde, die seit 2007 geltende Friedensethik der evangelischen Kirche zu überdenken und zu überarbeiten. Doch seit dem 24. Februar 2022 – dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine – wird auch unter den Christen heftig gestritten, was nun notwendig ist: verhandeln oder Waffen zur Selbstverteidigung zu liefern.

Plötzlich Minderheit

Der EKD-Friedensbeauftragte Friedrich Kramer hat von Beginn an Waffenlieferungen abgelehnt, andere wie etwa die Ratsvorsitzende der EKD, Annette Kurschus, befürworten sie dagegen. Kramer geht es mit seiner pazifistischen Haltung nicht anders als anderen Friedensbewegten: Sie, die vor kurzer Zeit noch zur Mehrheit gehörten, befinden sich plötzlich in einer Minderheitenposition.

In der Bundesregierung, so scheint es, muss immer wieder neu über Positionen gerungen werden. Viele Grüne stehen inzwischen geschlossen hinter dem Kurs ihrer Parteifreundin, Bundesaußenministerin Annalena Baerbock, Russland klare Kante zu zeigen und vor dem Einsatz militärischer Mittel nicht zu scheuen.

Kritik musste dagegen Kanzleramtsminister Wolfgang Schmidt (SPD) hinnehmen, der Mitte Oktober Rufe nach deutschen Leopard-2-Panzern für die Ukraine mit Hoffnungen verglichen hatte, die in Nazi-Deutschland in die von der Propaganda als „Wunderwaffe“ bezeichnete V2-Rakete gesetzt wurden.

„Ich bin manchmal versucht, es das V2-Syndrom der Deutschen zu nennen“, so Schmidt – dass es eine Wunderwaffe gebe, die wie Magie dafür sorge, dass Dinge sich erledigten. „Und jetzt ist der Leopard 2 (…) diese Wunderwaffe, die den Krieg beenden wird. Und das wird er nicht.“

Veränderungen der öffenlichen Meinung

Peter Matuschek vom Forsa-Institut stellte bereits Mitte Juni fest, dass einer der wenigen Aspekte, bei denen es infolge des russischen Überfalls auf die Ukraine zu einer deutlichen Veränderung in der öffentlichen Meinung gekommen ist, die Frage der Waffenlieferungen an die Ukraine betrifft. „Mitte Februar hatte nur eine Minderheit von 29 Prozent der Bundesbürger die Meinung vertreten, Deutschland solle der Ukraine Waffen liefern, während 61 Prozent Waffenlieferungen ablehnten.“

Nach der „Zeitenwenden“-Rede von Olaf Scholz im Deutschen Bundestag und seiner Ankündigung, der Ukraine doch Waffen zur Selbstverteidigung zu liefern, habe sich das Meinungsbild völlig umgekehrt. „Eine große Mehrheit von 78 Prozent der Bundesbürger fand nun die Entscheidung der Bundesregierung, die Ukraine doch mit Waffenlieferungen zu unterstützen, richtig“, so Matuschek. Mehrheitlich unterstützt werde von den Bundesbürgern seither auch die Lieferung weiterer, auch schwerer Waffen durch Deutschland.

Dennoch dringt SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich vehement auf andere Lösungen. „Ich stehe uneingeschränkt dazu, die Ukraine gegen den russischen Aggressor zu unterstützen“, sagte Mützenich Ende Oktober im RND-Interview. „Ich nehme aber auch Umfragen zur Kenntnis, nach denen 60 Prozent der Deutschen sich mehr diplomatische Initiativen wünschen. Das sollte uns zu denken geben.“

Abfuhr für Prominente

Ist das so? Bislang fühlen sich Menschen, die auf Verhandlungen setzen, im Abseits. Ende Juni veröffentlichten prominente Forschende, Kunstschaffende und Politiker wie der Publizist Jakob Augstein, die Strafrechtlerin Elisa Hoven, der Filmemacher Alexander Kluge, der Ex-Diplomat Michael von der Schulenburg oder der frühere Bundeswehrgeneral Erich Vad in der „Zeit“ den Appell „Waffenstillstand jetzt!“.

Sie schrieben darin: „Ein Sieg der Ukraine mit der Rückeroberung aller besetzten Gebiete einschließlich der Oblaste Donezk und Luhansk und der Krim gilt unter Militärexperten als unrealistisch, da Russland militärisch überlegen ist und die Fähigkeit zur weiteren militärischen Eskalation besitzt. Die westlichen Länder, die die Ukraine militärisch unterstützen, müssen sich deshalb fragen, welches Ziel sie genau verfolgen und ob (und wie lange) Waffenlieferungen weiterhin der richtige Weg sind. Die Fortführung des Krieges mit dem Ziel eines vollständigen Sieges der Ukraine über Russland bedeutet Tausende weitere Kriegsopfer, die für ein Ziel sterben, das nicht realistisch zu sein scheint.“

Große Teile der veröffentlichten Meinung bescheinigten den Intellektuellen daraufhin wahlweise Naivität, irrsinnig oder Werkzeuge Putins zu sein.

Pazifismus am Ende?

Der ukrainische Dichter Serhij Zhadan antwortete, ebenfalls in der „Zeit“: „Lassen Sie uns die Dinge beim Namen nennen: Dass Charkiw, Mykolajiw und Odessa noch immer in ukrainischer Hand sind und es dort keine Filtrationslager und Massengräber gibt, ist nicht der russländischen Gesprächsbereitschaft zu verdanken, sondern unserer Kampfbereitschaft und Widerstandsfähigkeit. Die Ukraine verteidigt sich weiter, heute, jetzt, genau in diesem Moment. Während manche Leute Verhandlungen mit dem Aggressor in Erwägung ziehen, verteidigen die ukrainischen Soldaten mit ihren Körpern unser Land.“

Wird der Pazifismus mit diesem Konflikt auf europäischen Boden zu Grabe getragen?

Recht des Stärken

„Nein“, sagt der Friedensforscher und Ökonom Tilman Brück vom International Security and Development Center (ISDC). „Der Krieg in Ukraine beweist keineswegs ein Scheitern des Pazifismus.“ Friedlich und gewaltfrei ginge es nur zu, wenn sich alle an Recht und Ordnung hielten und niemand vom Recht des Stärken gebraucht mache. „Hier geht es jedoch nicht um einen Konflikt gleichstarker Kontrahenten. Hier ist eine Bande Schwerkrimineller ins Haus einer friedlichen Familie eingedrungen, schießt und schlägt um sich, zerstört alles. Hat es Sinn, die zu fragen, ob sie nicht lieber verhandeln wollen?“

Der frühere Direktor des schwedischen Friedensforschungsinstituts SIPRI ist sich zwar sicher, dass auch in diesem Konflikt einmal geredet werden wird. „Doch im Moment ist das unmöglich. Eine Waffenruhe wäre jetzt ein negativer Frieden, ein Frieden ohne Aussicht auf ein Ende der russischen Aggression auch – aber nicht nur – in den dann russisch besetzten Gebieten.“

Brück sagt, Pazifismus bedeute nicht zwangsläufig, die andere Wange hinzuhalten, wenn schon auf eine geschlagen worden sei. Dieser radikale Ansatz von Gewaltlosigkeit wäre im von Russland geführten Ukraine-Krieg fatal. „Der Völkermord würde sich fortsetzen.“ Pazifismus, so der Friedensforscher, bedeute zunächst einmal, Recht und Ordnung. „Dazu ist es notwendig, Macht zu regulieren. Und von diesem Punkt ist Moskau zum Beispiel weit entfernt.“

Regulierung der Gewalt

So gesehen ist die Friedensbewegung, auch wenn es gerade nicht so aussehe, riesig, meint Brück. „Macht muss letztlich auch in anderen Zusammenhängen reguliert werden, etwa beim Umgang zwischen den Geschlechtern oder zwischen Mensch und Natur.“ Hier gebe es viele engagierte Menschen. Krieg, so der Entwicklungsökonom, sei eine Form von Machtmissbrauch.

Letztlich, so Tilman Brück, müsse bei allen Überlegungen des Westens im Ukraine-Konflikt dazu gehören, dass die Regulierung der Gewalt durch die Gemeinschaft das zu erreichende Ziel sei. „Auf europäischer Ebene sind wir da sehr weit, auf globaler eher nicht.“

So gesehen hat der Pazifismus noch lange nicht ausgedient.

Von Thoralf Cleven/RND