Auf dem falschen Dampfer: Stapellauf für die neue Mysteryserie „1899“ – landeszeitung.de

Also echt jetzt, eine Transatlantikreise auf einem Vierschlote-Ozeanriesen namens „Kerberos“? Wer hätte allen Ernstes eine Überfahrt nach Amerika gebucht, wenn das Schiff nach dem zähne­fletschenden Dämon der Grube heißt, dem Höllenhund der Antike, der darauf aufpasst, dass kein Toter je die Unterwelt verlässt?

Scheinbar aber geben die 1612 Passagiere und Mannschafts­mitglieder dieser Seefahrt erst mal nichts auf „Nomen est omen“. Die Gutgestellten in den prunkvollen Oberdecks und die Armen tiefer im Schiffsbauch sind in froher Erwartung der Neuen Welt. Gesprächs­thema bei Tisch und auch sonstwo ist freilich ein anderer Dampfer derselben Reederei, der nie ankam und der auf der USA-Route vier Monate zuvor verloren ging.

Baran bo Odar und Jantje Friese, filme­machendes Ehepaar und Schöpfer der herausragenden Mysterysaga „Dark“, gehen in ihrer neuen Serie zurück ins späte viktorianische Zeitalter. Ein Historien- und Kostüm­abenteuer à la James Camerons „Titanic“ erwartet uns jedoch nur äußerlich. Die Kerberos erhält unterwegs ein Telegramm von dem verschollenen Schwesterschiff, worauf Kapitän Eyk Larsen (Andreas Pitschmann) die „Kerberos“ gegen alle Widerstände von Crew und reichen Reisenden wenden lässt, um Überlebende an Bord zu nehmen.

Die Reederei will das Schiff versenken lassen

Seltsam ist indes das Telegramm der Reederei: „Schiff versenken!“ (Wie viel Sprengstoff hat ein Passagierschiff auf Lager?) Das, was Larsen und seine Begleiterinnen und Begleiter, darunter die ihren Bruder suchende junge irische Gehirnspezialistin Maura (Emily Beecham), auf der „Prometheus“ vorfinden, ist denn auch bester Creep-Stoff für alle Publika, die es lieben, wenn es auf dem Bildschirm so wenig mit rechten Dingen zugeht wie nur irgend möglich. Bald verbreitet sich auf den Decks der abergläubischen Unterschicht das Gerücht von einem Fluch und nicht viel später – nomen ist eben doch omen – ist auf der „Kerberos“ die Hölle los.

Friese und bo Odar servieren ein weiteres Mal ein qualitativ hochwertiges Gänsehautfest und einen Gehirnverbieger par excellence. Wenn in der ersten Folge im großen Speisesaal Hunderte Gäste, die soeben noch alle einzeln für sich agierten, synchron die Tassen zum Mund führen, war’s das auch schon mit „Titanic“. Und wenn die „Prometheus“ dann schwarz und lichtlos unter grabgrauen Himmeln an der Flanke der „Kerberos“ liegt, mehr Schatten als Schiff, ist der Betrachter all dessen längst auf der Hut.

Ein Brief, der auch das Publikum anspricht: „Vertraue niemandem!“

Was war das überhaupt für ein Auftakt mit diesem gereimten Spruch über das „Hirn, das den Himmel überragt“? Mit Maura, die den Flur einer Nerven­heilanstalt entlanggerannt ist und „Ich hab’s gesehen. Ich hab’s gesehen, was du auf den Schiffen gemacht hast!“ gerufen hat? „Wach auf!“, hörte man dann eine Stimme sagen. Und plötzlich lag Maura in einer Kabine der „Kerberos“, aufatmend nach dem Albtraum, mit einem wenig ermutigenden Brief des Bruders in den Händen: „Vertraue niemandem“, stand darin.

Tun wir Zuschauerinnen und Zuschauer übrigens auch nicht bezüglich dieser Serie. Seltsamkeiten werden von Chefautorin Friese zuhauf aneinandergereiht, und jeder an Bord scheint Geheimnisse und existenzielle Schuld mit sich herumzutragen. Was sich denn auch spukig zu manifestieren scheint – so sieht Käpt’n Larsen seine tote Tochter über den Schiffsflur huschen. Sind die Leute auf der „Kerberos“ am Ende alles Tote wie die Familie in Alejandro Amenábars faszinierendem Gruselstück „The Others“ (2001) mit Nicole Kidman?

Zu Prometheus fallen einige mögliche Inspirationen ein

Oder lohnt es sich, in Richtung von Ridley Scotts „Alien“-Saga zu denken, wo ja auch ein Film „Prometheus“ (2012) hieß, und wo im ersten Streifen des Franchise ein – interstellarer – Hilferuf die Leute vom Erz­verhüttungs­schiff „Nostromo“ ins Verderben lockte?

Man erinnert sich auch noch gut an George Clooney, der in der jüngsten Verfilmung von Stanislaw Lems Roman „Solaris“ (2002) auf der Raumstation „Prometheus“ den Geistern seiner Vergangenheit begegnete. Ist das Meer um die „Kerberos“ etwa „intelligent“ und vermag – wie der Ozean des Planeten Solaris –, Geliebte und Betrauerte heraufzu­beschwören? Man ist – so viel sei gesagt – auf dem falschen Dampfer mit all diesen Vermutungen.

Wobei zum Ende der fünften von acht Episoden (sechs wurden vorab zur Sichtung gewährt) der Titan Prometheus, der den Menschen das Feuer schenkte und damit quasi antike Symbolfigur des menschlichen Fortschritts ist, doch noch zum Patron der Serie taugt. Nicht, dass die Serienschöpfer parallel zum mählichen Licht-ins-Dunkel-Bringen mit dem Rätselstellen aufhören würden.

Die Stimmung einer unheimlichen Bedrohung wird kunstvoll aufgebaut

Dass nicht wenige der Figuren skizzenhaft bleiben und mancher Sprechtext nicht nur von der Stange kommt, sondern auch über Gebühr theatralisch aufgesagt wird („Du hast mich nie geliebt. Das ist keine Ehe. Das ist ein Arrangement“, wirft der aufgebrachte Lucien nach koitalem Totalversagen der Gattin Clémence seinen 08/15‑Selbsthass an den Kopf), fällt nicht übermäßig ins Gewicht.

Die Stimmung einer unheimlichen Bedrohung wird kunstvoll aufgebaut – voran durch einen exzellenten Score aus dräuender, stampfender Maschinenmusik und rhythmisch stoßenden Gesangsfetzen, die klingen, als würde sich irgendetwas oder irgendjemand am Leid der Ozeanquerer ergötzen. Geradezu genial ist es, wenn ein metallischer Rhythmus des düsteren Soundtracks plötzlich auch vom Personal des Films wahrgenommen wird – mit haarsträubenden Konsequenzen.

Leitsong der Serie ist Jefferson Airplanes „White Rabbit“

Jede Folge wird mit einem Klassiker der Rockmusik beschlossen – mit Jimi Hendrix’ Dylan-Adaption „All Along the Watchtower“, Deep Purples „Child in Time“ oder Blue Öyster Cults „Don’t Fear The Reaper“ (das 1978 schon John Carpenters „Halloween“ schmückte). Leitsong des Vorspanns, der durchaus die visuelle Klasse von „Westworld“ und „Black Sails“ hat, ist eine Coverversion von Jefferson Airplanes „White Rabbit“, einem Song, in dem es um halluzinogene Pillen und Pilze geht, um die rote Königin und natürlich um das weiße Kaninchen aus „Alice im Wunderland“ und ganz generell um Wirklichkeitsverlust.

Ob das ein Hinweis von bo Odar und Friese ist, wohin der Hase in „1899“ läuft? Wie all die Mystery in den fehlenden beiden Folgen plausibel entschlüsselt werden könnte?

Das Ende wird erst der Anfang sein. Geplant sind drei Staffeln.

„1899“, erste Staffel, acht Episoden, von Jantje Friese und Baran bo Odar, mit Emily Beecham, Andreas Pietschmann, Maciej Musial, Clara Rosager, Isabella Weifflyn dwards, Yann Gael (ab 17. November bei Netflix)

Von Matthias Halbig/RND