Wer entscheidet eigentlich, was wir sehen? – landeszeitung.de

Hannover. Bilder sagen mehr als tausend Worte – und bei der Fußball-WM in Katar gilt das mehr denn je. Selbst auf dem sonst so unpolitischen Fußballplatz werden dieser Tage Bilder produziert, die weltweite Schlagzeilen auslösen.

Da wäre etwa das Team der Iraner, das sich geweigert hatte, die Nationalhymne seines Landes zu singen. Ebenso wird mit Spannung erwartet, wie sich nun die europäischen Teams positionieren werden, die eigentlich mit einer „One Love“-Armbinde auf dem Platz auflaufen wollten – und schließlich doch einen Rückzieher machten.

Was auf dem Platz passiert, hat schon lange nicht mehr ausschließlich mit Sport zu tun – es kann mitunter politische Beben auslösen. Und doch bekommen Zuschauerinnen und Zuschauer an den Fernsehgeräten im Zweifel gar nicht alles mit, was sich im Stadion abspielt. Denn die TV-Sender selbst haben nur bedingt darauf Einfluss.

Wer entscheidet eigentlich darüber, was wir bei dieser WM sehen und was nicht?

Leere Ränge, keine Bilder

Diskussionen darüber hatte zuletzt ein Fall am Sonntag ausgelöst. Das Eröffnungsspiel Ecuador gegen den Gastgeber Katar lief gerade einmal wenige Minuten, da leerten sich bereits die Zuschauerränge der Katarer. Viele Fans hatte offenbar aufgrund der schlechten Leistung ihrer Mannschaft schnell das Weite gesucht.

Das Problem: Der Fernsehzuschauer und die -zuschauerin sahen davon herzlich wenig. Stattdessen schwenkten die Kameras im Stadion gelegentlich in die Blöcke, in denen rot gekleidete Anhänger der katarischen Auswahl laut jubelten.

Nur über die sozialen Netzwerke und Bildagenturen verbreitete sich das echte Ausmaß der Tragödie.

Ein Abseits ohne Beweisvideo

Ein anderer Fall, der für Diskussionen sorgte: Ein aberkanntes 1:0 der Ecuadorianer gegen Katar. Die Schiedsrichter hatten mittels Videotechnik ein Abseits erkannt – den Zuschauerinnen und Zuschauern vor den Fernsehgeräten blieb ein Belegbild für dieses Abseits zunächst aber lange Zeit verwehrt.

Fans in den sozialen Netzwerken witterten daher schnell eine Verschwörung. Der Schiedsrichter sei gekauft, hieß es etwa bei Twitter. Oder: „Abseits ist, wenn der Emir das sagt“, wie ein Fan schrieb. Später erklärte ZDF-Reprorter Béla Réthy, das Abseits sei auf einer Videowand im Stadion zu sehen gewesen – im „Weltbild“, also dem vom ZDF ausgestrahlten Fernsehsignal, müsse man zunächst „darauf verzichten“.

Erst in der Halbzeitpause lieferte das ZDF die nötigen Beweisbilder mit dazugehöriger Analyse nach. Demnach wurde das 1:0 tatsächlich rechtmäßig aberkannt – Fragen werfen die zunächst fehlenden Bilder aber dennoch auf.

Die Macht der Bilder liegt bei der Fifa

Tatsächlich haben die in Deutschland übertragenden Sender, also ARD, ZDF und MagentaTV, deutlich weniger Macht über die Stadionbilder, als manch ein Fußballfan vielleicht glauben mag. Produziert werden die Fernsehsignale aus dem Stadion nämlich von einem Liveübertragungs-Dienstleiter mit dem Namen Host Broadcast Services (HBS) – und dieser wiederum steht einzig und allein im Auftrag der Fifa.

Erstmals zum Einsatz kam HBS, eine Tochter der Schweizer Sportrechte-Agentur Infront, 1998 bei der Übertragung der Fußball-WM in Frankreich. Das galt damals als bemerkenswert: Das Team setzte neue Akzente in der Regie, etwa durch eine größere Anzahl emotionaler Bilder statt einer distanziert rationalen Berichterstattung. Das Konzept verfestigte sich bei der Fußball-WM 2002 in Japan und Südkorea. Auch bei den Weltmeisterschaften 2006 in Deutschland, 2010 in Südafrika, 2014 in Brasilien und 2018 in Russland war HBS für die Produktion verantwortlich.

Nicht nur das: HBS überträgt auch andere Veranstaltungen der Fifa, darunter etwa die Frauen-Weltmeisterschaft, die Fifa U17- und U20-Weltmeisterschaften, sowohl der Männer als auch der Frauen, die Fifa Futsal-Weltmeisterschaft und die Fifa Beach-Soccer-Weltmeisterschaft. Auch wenn der Broadcast-Service nicht offiziell der Fifa gehört, so ist er doch eng mit ihr verbandelt und seit Jahrzehnten treuer Partner.

Kritik gibt es selten

Das Konzept ist nicht ungewöhnlich. Auch bei der Deutschen Bundesliga produzieren übertragende TV-Sender die Stadionbilder in der Regel nicht selbst. Eine Tochterfirma der Deutschen Fußball Liga produziert ein Basissignal mit 20 Kameras, Sender können aber auch ihre eigenen Kameras mitbringen. Klar ist: Einen journalistischen Auftrag haben diese Produktionsfirmen nicht. Sie zeigen vor allem das, was ihre Auftraggeber sehen wollen: schöne Bilder.

Diskutiert wurde diese Rolle in den vergangenen Jahrzehnten kaum – aber auch nur selten war eine WM so politisch wie diese. Gelegentlich gab es mal stilistische Kritik. Bei der WM in Deutschland 2006 etwa kritisierten der damalige WDR-Sportchef Heribert Fassbender und der frühere ZDF-Chefredakteur Nikolaus Brender den Broadcaster HBS für die Produktion der WM.

Zeitlupen seien häufig zu spät ausgestrahlt worden, hieß es damals – zudem zeige der Broadcast-Service ein Übermaß sogenannter „totaler Einstellungen“. Gemeint ist damit eine Kameraperspektive aus größerer Distanz, die das Große und Ganze zeigt.

Ein Bild für alle

Welche Szenen genau im Stadion eingefangen werden, ist offenbar immer eine Art Kompromiss. Die WM-Fernsehbilder werden schließlich auf der ganzen Welt ausgestrahlt – und müssen dementsprechend nicht nur ARD und ZDF, sondern der ganzen Welt gefallen.

Volker Weicker, 2002 als Regisseur für HBS aktiv, erklärte der „Süddeutschen Zeitung“ 2006 in einem Interview, es gebe dafür ein strenges Maßnahmenpapier, um dem Auftraggeber und den Zuschauerinnen und Zuschauern gerecht zu werden.

„Wie sieht ein (…) Bildangebot, aus, das den Japaner, den Iraner, den Australier und den Brasilianer gleichermaßen begeistert? Es gibt international einfach unterschiedliche Standards, Fußball zu übertragen“, so Weicker damals. „In England sitzen die Menschen ganz dicht an der Außenlinie. In Deutschland muss man für jeden Applaus einen Umschnitt machen, in England ist der Jubel immer mit im Bild. Vielleicht überlegt man sich als HBS-Regisseur auch, die leicht bekleideten brasilianischen Damen nicht so oft zu zeigen, um die moslemischen Zuschauer nicht zu verärgern.“

Eigene Kameras im Stadion

Auch ARD, ZDF und MagentaTV sind bei der Übertragung der Stadionspiele von HBS abhängig – das meint Béla Réthy, wenn er von „Weltbild“ spricht. Gibt es keine Bilder von leeren Rängen, dann gibt es halt keine. Und fehlt die Kameraeinstellung für das Abseits, dann muss man sich damit zufrieden geben.

HBS produziert vor Ort mit bis zu 42 Kameras und rund 35 Mikrofonen und gibt das Signal an die TV-Sender weiter. Eine Sprecherin des SWR, der federführend für die ARD die WM überträgt, erklärt dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) auf Anfrage, dass die Bilder auch nicht mehr durch eigenes Material angereichert werden. HBS liefere ein Fernsehbild für alle, dieses würde so übernommen.

Immerhin: Während der Spiele habe man „in der Regel“ auch eine eigene Kamera im Stadion, heißt es vom SWR. „Bei deutschen Spielen sind es meist drei“, so die Sprecherin. Das bedeutet, dass es der ARD durchaus gelänge, heikle Szenen auf dem Platz oder den Tribünen einzufangen – selbst dann, wenn die Fifa diese nicht zeigen wollen würde. „Wir haben keine Auflagen, die uns daran hindern könnten“, sagt die Sprecherin. Fraglich ist allerdings, inwiefern sich das mit einer einzigen Kamera realisieren lässt.

Reporter erklärt, was der Zuschauer nicht sieht

Das ZDF erklärt auf RND-Anfrage, man habe bei Deutschlandspielen sieben eigene Kameras im Einsatz – ob das auch für andere Spiele gilt, lässt der Sprecher offen. Er verweist jedoch auf den Vorfall mit den leeren Rängen. Am Sonntag habe Béla Réthy dies mehrfach in seinem Live-Kommentar angesprochen – zudem sei der Fall später auch in der Expertenrunde im ZDF WM-Studio Thema gewesen.

„Die Reporterinnen und Reporter, die für das ZDF in den Stadien und an den anderen WM-Plätzen vor Ort sind, stellen die umfassende Berichterstattung sicher“, so der ZDF-Sprecher.

Bereits im Vorfeld hatten ARD und ZDF immer wieder betont, die WM-Ereignisse in Katar kritisch zu begleiten, auch MagentaTV (Telekom) versprach ein „umfassendes und differenziertes Bild“. Ob aber jedes Bild auch wirklich bei den Sendern ankommt, ist eine ganz andere Frage.

Von Matthias Schwarzer/RND