Das System Gianni Infantino: So tickt der Fifa-Boss – landeszeitung.de

An ihm reibt sich die Fußballwelt: Wie ein italienischer Einwanderersohn aus der Schweiz das globale Milliardengeschäft mit dem runden Leder in seinem Sinne zu kontrollieren versucht.

Es war mal wieder ein Termin wie gemacht für den Allesmacher und Immergrinser Gianni Infantino. Donnerstag zur Mittagszeit, Al Janoub Stadium von Doha. Der Präsident des Fußball-Weltverbandes Fifa schritt vor der WM-Partie zwischen Schweiz und Kamerun (1:0) zu einer Ehrung auf den Rasen. Verhaltener Applaus, einzelne Pfiffe von den Rängen. Später sollte der Stadionsprecher verkünden, dass trotz vieler freier Schalensitze angeblich 39.089 Augenzeugen dabei gewesen sind. Ein Zuschauer war auf jeden Fall Roger Milla, dem Infantino eine riesige Tafel überreichte.

Milla ist eine Stürmerlegende aus Kamerun, einst wurde er mit seinen Tänzchen und Toren zum Gesicht der Weltmeisterschaften 1990 und 1994. Wie der Torjäger mit 38 beziehungsweise 42 Jahren den Gegenspielern davonlief: Ja, das hatte was. Es waren Fußballturniere, die ohne politische Debatten abliefen. Und vielleicht sehnt sich auch Infantino in diese unbeschwerte Zeit zurück, jedenfalls hat der Fifa-Boss nachträglich die Urkunde für den ältesten Torschützen der WM-Geschichte an den mittlerweile 70 Jahre alten Milla übergeben. Dessen Namen skandierte eine kleine Fangruppe aus Kamerun, während Infantino an den Spielfeldrand zu zwei im Rollstuhl sitzenden Personen schritt. Der 52-Jährige nahm deren Handy und knipste Selfies. Weil er wusste, dass bald das Weltbild auf ihn gerichtet sein würde. Seht her, der Fifa-Präsident kümmert sich um Behinderte. Infantino sprach auch mit deren Begleitern, schüttelte Hände. Gesten, die gut ankommen. Glaubt er.

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Infantino spaltet die Fußball-Welt

Aber in welchem Universum bewegt sich dieser Mann wirklich? Rückblende. Fünf Tage vorher.

„Virtual Stadium“ nennt sich im Qatar National Convention Center (QNCC) der Saal. Die Bühne für Infantinos Pressekonferenz. 90 Minuten Soloshow, davon 60 als Monolog, in denen einer die Fußballwelt machte, wie sie ihm gefällt. Er wetterte gegen Kritiker, vor allem gegen westliche Besserwisser. Er verkündete, er sei Araber und Afrikaner – die sichern ihm nämlich im nächsten Jahr beim Kongress in Kigali in Ruanda die Wiederwahl. Den Europäern hielt er vor: „Was wir in den letzten 3000 Jahren gemacht haben, dafür sollten wir uns 3000 Jahre entschuldigen, bevor wir anfangen, moralische Ratschläge an andere zu verteilen.“ Ein Seitenhieb auf die Kolonialgeschichte.

Infantino hat es geschafft, mit der WM in Katar die (Fußball-)Welt zu spalten. Von wegen alle Religionen, Kulturen und Nationen feiern hier ein Fest. Der Streit eskalierte um die „One Love“-Binde, die mehrere europäische Nationen als Zeichen für Vielfalt an den Armen ihrer Kapitäne vorzeigen wollten. Auch das war Katar, wo Homosexualität unter Strafe steht, zu viel Symbolik. Und die Fifa benutzte erpresserische Methoden, um das Verbot durchzusetzen. Ein größeres Eigentor hätte diese Institution kaum schießen können, als die in vielen Kampagnen proklamierten Werte derart mit Füßen zu treten.

Der Verdruss ist groß, die Verstimmung – auch gegenüber Infantino – gewaltig. Die von ihm angekündigte größte Show der Erde droht zum Lehrbeispiel für interkulturelle Missverständnisse auszuarten. Denn: Auch die arabische Welt ist entsetzt über die europäische Empörung. 211 Mitgliedsverbände hat die Fifa, viele Verbandspräsidenten finden den Fifa-Chef okay; vor allem wegen der Geldspritzen, die aus Zürich fließen. Aber es gibt Länder, die verlangen nach mehr.

Nach anderen Werten nämlich. Dänemark erwägt gar einen Austritt aus der Fifa, wie überhaupt die Skandinavier sich an die Speerspitze des Widerstands gesetzt haben. Lise Klaveness hatte frisch im Amt als Präsidentin des norwegischen Fußballverbands NFF Klartext auf offener Bühne gegenüber Infantino geredet. „Wir vertrauen nicht darauf, dass Infantino der richtige Anführer ist, der uns weiterbringt.“

Infantino galt als Gefolgsmann von Uefa-Präsident Michel Platini

Skurril ist, dass Giovanni („Gianni“) Vincenzo Infantino, am 23. März 1970 in Brig im Kanton Wallis als Sohn italienischer Eltern geboren, eine Vita einbringt, die wie gemacht für Völkerverständigung wäre. Er ist verheiratet mit Lina Al Achkar Infantino, die aus dem Libanon stammt und beim dortigen Fußballverband als stellvertretende Generalsekretärin tätig war. Das Paar hat vier Kinder: Alessia, Sabrina, Shanïa Serena und Dhalia Nora.

Von allem hat er jüngst erzählt. „Meine Eltern haben sehr, sehr hart gearbeitet, unter sehr schwierigen Bedingungen.“ Er erinnere sich gut, „wie sie an der Grenze behandelt wurden, was mit ihren Pässen geschah und wie ihre Unterbringung war.“ Sein Vater Vincenzo arbeitete am Bahnhof als Zeitungsbote, seine Mutter Maria betrieb einen Kiosk. Er wisse aus seiner Kindheit überdies, was es bedeutet, gemobbt zu werden. „Weil ich rote Haare und Sommersprossen hatte, wurde ich gemobbt. Und ich war auch noch Italiener.“ Er habe aber versucht, Anschluss zu finden. Weggefährten beschreiben ihn als aufgeschlossenen, intelligenten jungen Mann, der schnell Zusammenhänge verstand.

Er studierte Rechtswissenschaften, kam als Berater für verschiedene Fußballorganisationen unter, wurde Generalsekretär des Internationalen Zentrums für Sportstudien (CIES) an der Universität von Neuchâtel und trat 2000 in Dienst der Uefa, wo er bald Direktor der Division Rechtsdienst und Klublizenzierung wurde. Ob der vielsprachige Strippenzieher seinen Karriereplan da schon im Kopf hatte? Der breiten Öffentlichkeit wurde seine markante Glatze durch die Auslosungen der europäischen Wettbewerbe bekannt – intern galt er als Gefolgsmann des damals noch populären Uefa-Präsidenten Michel Platini.

Mittlerweile stehen sich Uefa und Fifa wegen Infantino fast feindselig gegenüber. Immer wieder hat er versucht, die Pfründe des europäischen Fußballs anzugreifen. Mit den Plänen für eine Klub-WM mit 24 Teams, vor allem mit einer WM im Zwei-Jahres-Rhythmus.

Infantino attackiert Europa immer wieder

Um Europa zu attackieren, scheut der Funktionär vor nichts zurück. Er räsonierte zuletzt über die Migrationspolitik der EU: 25.000 Menschen seien auf der Flucht seit 2014 ums Leben gekommen, weil Europa keine geordneten Einwanderungswege hinbekäme. Anders als der WM-Gastgeber. „Katar gibt Hunderttausenden Arbeitern aus Entwicklungsländern die Möglichkeit, ihren Familien das Leben zu ermöglichen. Das passiert auf legalem Wege, und sie verdienen das Zehnfache wie zu Hause.“ Man müsse anerkennen, dass Katar große Fortschritte gemacht habe; zumindest seit er, der einen zweiten Wohnsitz in Doha hat, den Dialog mit den Herrschern gesucht habe.

Menschenrechtsorganisationen schlugen bei solch steilen Thesen die Hände vors Gesicht. Infantino aber fühlte sich wieder unverstanden. Sein Leitsatz lautet: „Die Probleme verschwinden durch den Fußball nicht, aber wir können helfen, die Probleme etwas erträglicher zu gestalten.“ Was er nicht sagt: Die Fifa macht damit Geld. Nimmt fast 6 Milliarden Euro mit einer WM ein.

Unter welchen Umständen Infantino den Präsidentensessel in einer der größten Fifa-Krisen nach den Justizermittlungen rund um die Vergabe der WM 2022 erklommen hat, ist bis heute nicht geklärt. Eine Schlüsselrolle soll der Kantonsjurist Rinaldo Arnolds gespielt haben. Gab der Infantino-Freund der Schweizer Bundesstaatsanwaltschaft die Informationen über die Geldflüsse, die seinen Vorgesetzten Platini stolpern ließen? Als auch Fifa-Chef Sepp Blatter wegen Verwicklung in diesen Deal nicht mehr zu halten war, sprang zur Überraschung eben der Uefa-Generalsekretär Infantino aufs Kandidatenkarussell. Und war bald Präsident.

Kontaktmann Arnold erhielt nach Recherchen der „Süddeutschen Zeitung“ großzügige Einladungen der Fifa. Sein Verhältnis zum „Capo“, wie er Infantino in einer Mail nannte, war so gut, dass er sich bei ihm als stellvertretender Generalsekretär andiente. Längst hat der Boss aber eine Frau zur Generalsekretärin gemacht: Fatma Samoura aus dem Senegal, wobei bei der 60-Jährigen auffällt, dass sie genau das sagt und macht, was der Präsident möchte. Ein eigenes Profil hat Samoura nicht entwickelt. Infantino beherrscht alle Winkelzüge, um seine Macht abzusichern. Selbst Funktionäre, die ihn länger kennen, können ihn nicht richtig greifen.

WM mit 48 Teams ist Infantinos Idee

Er hat durchgesetzt, dass die WM 2026 in USA, Kanada und Mexiko mit 48 Teams gespielt wird, obwohl dadurch alle Nachhaltigkeitsversprechungen konterkariert werden. Infantino hat die Aufblähung damit begründet, dass auch Länder wie der Irak mitspielen müssen – dann würde man sehen, dass dort „nicht nur Monster leben“. Kritik am Mullah-Regime, das die Protestbewegung im Iran brutal unterdrückt, war von ihm nicht zu hören.

Stattdessen lässt sich Infantino gern feiern. Bevor er sich jüngst bester Laune ins Studio des katarischen Sportsenders beIN setzte, stand er bei der Eröffnung des Fanfestivals im Al-Bidda-Park in erster Reihe. Neben ihm sogenannte Fifa-Legenden, zu denen aus Deutschland Lothar Matthäus und Thomas Berthold gehören. Und aus Kamerun Roger Milla. Ein Schelm, wer bei solchen Doppelpässen Böses denkt.

Von Frank Hellmann/RND