Anstoß zu etwas Größerem: Wie sechs Unternehmerinnen den Fußball auf den Kopf stellen wollen – landeszeitung.de

Ein Sonntagnachmittag in Berlin. Gut 600 Zuschauer stehen im redlich bemoosten Stadion Lichterfelde im Südwesten der Stadt. Ein einsamer Trommler trommelt. Punktspielalltag in der Frauen-Regionalliga Nordost. Eintritt 4 Euro, Bier, Bratwurst, Stehplatz. Es steht 0:0 im Spiel des FC Viktoria Berlin gegen den SFC Stern 1900. Viktoria dominiert, drückt, ackert – aber trifft nicht. Dann aber, in der 61. Minute, schnappt sich Kapitänin Marlies Sänger, hauptberuflich Beraterin bei der Commerzbank, den Ball und schießt aus 25 Metern kaltblütig rechts oben in den Winkel. Ein Sonntagsschuss. Der Knoten platzt.

Es sieht aus wie ein rasantes Fußballspiel. Aber es geht um viel mehr. Der FC Viktoria Berlin ist ein Gesellschaftsexperiment. Dessen Ziele sind nicht weniger als eine fairere Sportwelt, ein massiver Schub für den Frauenfußball und ein Signal an das Land: Seht her, was möglich ist, wenn Frauen wollen. Bis 2025 will man in der Bundesliga spielen.

Weitab des Wüstenspektakels

Während die Welt mit Zorn und Argwohn auf das blutbehaftete, verschobene Trauerspiel namens Fußball-WM in Katar blickt, sitzt Felicia Mutterer, ehemalige Fußballerin, TV-Moderatorin beim SWR und Sportjournalistin, weitab vom erkauften Wüstenspektakel auf einer morschen Holzbank in Lichterfelde und plant genau das Gegenteil: eine Sportwelt mit gleichen Chancen für Männer und Frauen. „Von Gleichberechtigung im Sport kann keine Rede sein“, sagt sie. „Das gilt vor allem für Teamsportarten. Das wollen wir ändern. Dafür sind wir angetreten. Und wir meinen das ernst. Das ist kein PR-Gag.“

Mit fünf Schwestern im Geiste, darunter die ehemalige deutsche Nationalspielerin und Doppelweltmeisterin Ariane Hingst, hat Mutterer im Juli den Verein FC Viktoria 1889 im Berliner Bezirk Steglitz-Zehlendorf überzeugt, sein Frauenfußballteam als GmbH auszugliedern und dem Sextett die Verantwortung zu übertragen. „Das war gar nicht schwierig“, sagt sie. Im Boot sind neben Mutterer und Hingst noch die Unternehmerinnen Katharina Kurz und Verena Pausder, die Marketingspezialistin Lisa Währer und die frühere Vattenfall-Managerin Tanja Wielgoss. Das Sextett überzeugte bisher 87 weitere Investorinnen, sich mit 10 000 bis 50 000 Euro zu engagieren, darunter Ex-Skistar Maria Höfl-Riesch, Moderatorin Dunja Hayali, Komikerin Carolin Kebekus, Miriam Meckel oder Ex-Schwimmstar Franziska van Almsick als Aufsichtsrätin. Die Karriereplattform Stepstone und der Parfümriese Douglas sind als Brust- und Ärmelsponsoren dabei. Es ist an alles gedacht.

Die Unterstützung aus dem Profisport dagegen ist übersichtlich. Der DFB bot den Viktoriafrauen generös an, einen seiner Partner auf den Trikotärmel zu drucken. 1000 Euro wollte der Verband dafür monatlich bezahlen. Doch mit derlei Brosamen ließen sich die Managerinnen nicht abspeisen.

Auch Ariana Hingst ist im Stadion. Sie trägt einen schwarzen Hoodie. „Gamechanger“ steht auf dem Rücken. Worum geht es hier bei Viktoria Berlin, Frau Hingst? Sie schweigt. Dann zeigt sie mit den Armen auf die Tribüne. „Haben Sie so etwas schon mal erlebt bei einem Regionalligaspiel der Frauen?“, fragt sie. „Darum geht‘s.“

Ein Frauenfußballteam als feministisches Renommierprojekt also? In der noch immer männerbündlerisch strukturierten Fußballwelt lächelt da mancher. Hinter vorgehaltener Hand raunen Bundesligaschlachtrösser, dass den naiven Damen schon noch die Puste ausgehen werde. Mutterer – erfahrene Gründerin – sieht‘s gelassen. Die Vergangenheit habe gezeigt: „Wir können die Aufbauarbeit nicht Männern überlassen, die glauben, weil sie mit 28 Jahren mal Torschützenkönig in der Landesliga waren, seien sie auch gute Sportmanager.“

Auf dem Platz geht es fair und freundlich zu. „Rausschieben, rausschieben!“, ruft der Stern-Trainer. „Reindrücken, reindrücken!“, ruft ein Viktoria-Fan fröhlich zurück. In der 15. Minute verlässt eine Stern-Spielerin den Platz. „Ganz ganz liebe Grüße und gute Besserung!“, wünscht die Stadionsprecherin zärtlich. Es steht jetzt 3:0.

Fußball als gemeinsamer Nenner, als Chance und Kulturgut – das ist das ideologische Grundbrummen der Idee. Gewiss: Ziel ist auch ein tragfähiges Geschäftsmodell. „Viktoria Berlin“ soll eine „Love Brand“ werden, eine herzwärmende Marke also, die weit über den Fußball hinausragt. „Wenn wir Frauenfußball entwickeln wollen, kommen wir um Kommerzialisierung nicht herum“, sagt Mutterer. Doch im Vordergrund steht nicht Gewinnstreben. Es geht um Wichtigeres: „Diversity und Inklusion, Nachhaltigkeit und Selbstbewusstsein, Chancengleichheit und Gleichberechtigung“.

Zur Beflaggung gehört auch ein ordentlicher Schuss branchenfremder Start-up-Sprache. Von einem neuen „sportgesellschaftlichen Setting“ ist da viel die Rede, von einem „lebendigen Experiment von Female Empowerment und Leadership“. Nicht mal Oliver Bierhoff spricht so.

Das Vorbild kommt aus den USA

Vorbild für die Idee ist ein Team, das knapp 10 000 Kilometer entfernt mit ähnlichem Elan gestartet ist: In Los Angeles hat das mehrheitlich von Frauen gegründete und finanzierte Team Angel City FC schon 16 000 Dauerkarten verkauft – und damit mehr als einige Herrenteams aus der Major League Soccer. Zu den Gründerinnen gehören Hollywoodstars wie die Hauptinitiatorin Natalie Portman, Jessica Chastain, Jennifer Garner oder Eva Longoria, außerdem US-Sportstars wie Lindsey Vonn oder Ex-Fußball-Superstar Mia Hamm. Auch die deutsche Torhüterin Almuth Schult wechselte nach Kalifornien.

Übernahme durch private Geldgeber. Das klingt erst mal übergriffig. Nach einem Transfer von Tradition hin zu Macht und Kommerz. Investoren? Ein Reizwort für Sporttraditionalisten. Doch die 50:1 Regel gilt auch im Frauenfußball. Danach muss die Entscheidungshoheit zwingend beim Verein bleiben. „Vorbehalte gibt es immer, wenn man erfolgreich ist“, sagt Mutterer. Viktoria ist Tabellenführer in der Regionalliga. Der Aufstieg in die zweite Liga ist fest eingeplant. „Aber wir sind keine dicken Scheichs und keine Lars Windhorsts und auch nicht windig“, versichert sie. „Das hier ist kein Bereicherungsprojekt.“ Immerhin 251 Euro erhält jede Viktoria-Spielerin im Monat. Damit ist sie über die Berufsgenossenschaft abgesichert. Eine Pioniertat in der dritten Liga. Die meisten Kolleginnen gehen mit exakt null Euro nach Hause. Die Männer in der Regionalliga kassieren schon 1000 bis 6500 Euro (in der Spitze).

Seit der Europameisterschaft im Sommer boomt der Frauenfußball. Nur nicht in Berlin. Die einstige Topmannschaft Turbine Potsdam, sechsfacher Deutscher Meister, steckt tief in der Krise. Die 2020 gestartete Kooperation zwischen Turbine und Hertha BSC wird nicht verlängert. Der große Nachbar will seinen eigenen Mädchen- und Frauenbereich ausbauen. Und die Ex-Potsdamerin und Bundesligaveteranin Nina Ehegötz spielt künftig für – Viktoria Berlin.

Die Viktoriafrauen sehen sich als lachende Dritte. Das Spiel in Lichterfelde ist zu Ende. Kapitänin Sänger ist glücklich, aber fertig. „Es ist irre zu sehen, was sechs Frauen ausrichten können“, sagt sie. Noch ist Fußball ein Hobby für sie. Genau wie für Stürmerin Beslinda Shigjqi, genannt „Linda“. Sie führte mit ihrem Bruder zuletzt fünf Corona-Testzentren. Fußball ist ihr Sinnstifter und Hoffnungsobjekt. „Die sechs Gründerinnen haben krass viel Power. Da kriege ich Gänsehaut, wenn ich daran denke, dass jemand so sehr an uns glaubt.“

Es sind perfekte Zeiten, um den Frauensport zu boostern. Doch das meiste Geld fließt nach wie vor in die Männermannschaften, nicht nur im Fußball. „Wir haben als Spielerinnen privat Geld gesammelt, um spielen zu können“, sagt Shigjqi. „Das ist bei den Männern auch in der Regionalliga ganz anders. Die kriegen da schon Klamotten, eine Wohnung, Autos bezahlt. Was kriegen wir Frauen? Nichts.“

Das alte Versprechen

Eine Frauenmannschaft als Aufbruchsprojekt. Wenn der Plan hier aufgeht, könnte der Fußball mal wieder zeigen, ob er sein altes Versprechen noch halten kann: nämlich Identifikation und Selbstbewusstsein für ganze Regionen zu stiften. Er stünde dann für exakt das, was Fifa-Boss Giovanni Infantino in jeder seiner pathetischen Reden betont, aber niemals auslebt: Verständigung, Werte, Zusammenhalt. Er wäre das regionale, solidarische Gegenmodell zum traurigen Spektakel in Katar und zum korrumpierten, gierigen, kaputten Weltfußball, dessen oberste Funktionäre nicht mehr viel von Mafiosi unterscheidet. „Eine multioptionale Gesellschaft, in der Kirchen, Gewerkschaften, Parteien an Einfluss verlieren, braucht ja trotzdem gemeinsame Säulen, an denen sie sich orientieren kann“, sagt Mutterer. „Die Vereine wären dafür prädestiniert, aber sie sind für viele Gesellschaftsgruppen nicht so attraktiv. Zum Beispiel für Frauen.“

Kein Zweifel: Das hier soll der Anstoß zu etwas Größerem sein.

Von Imre Grimm/RND