ARD-Film über Alice Schwarzer: lebenslange Emanzipationsschlachten – landeszeitung.de

Beate Uhse und Alice Schwarzer haben trotz 23 Jahren Altersunterschied einiges gemeinsam. Geboren in reichsdeutscher Zeit, waren sie Objekte eines patriarchalen Systems, das für Frauen Kind und Kegel, aber gewiss keine Karrieren als Fortschrittskämpferinnen vorsah – wogegen beide freilich schon früh rebelliert haben. Erstere als Pilotin und Sexualitätsikone, Letztere als Journalistin und Emanzipationsikone, getrennt voneinander vereint im Sturm auf die konservative Wirtschaftswundergesellschaft und den Muff aus 1000 Jahren.

Was sie umso mehr trennt, ist die Porträtfreude des fiktionalen Fernsehens. Während Uhse als, pardon: Powerfrau einer sehr männlichen Epoche ihr branchenübliches Biopic „Das Recht auf Liebe“ erst posthum erhielt, dafür allerdings verkörpert vom Weltstar Franka Potente, feiert Schwarzer drei Tage nach der Ausstrahlung vom Zweiteiler „Alice“ am 30. November (20.15 Uhr, ARD) quicklebendig 80. Geburtstag. Und wie Nina Gummich das Original beseelt, dürfte Letzterer durchaus gefallen – schon wegen der gewählten Zeitspanne.

Schwarzer findet „Alice“ nicht nur gut, sondern „großartig“

Nach Drehbüchern von Daniel Nocke und Silke Steiner versetzt Nicole Weegmann ihre Hauptfigur ins Frankreich der Swinging Sixties, wo die junge Sprachschülerin den marxistischen Träumer Bruno (Thomas Guené) kennen- und lieben lernt. Fast 13 Jahre gehen beide gemeinsam durch dick und dünn, bis sie 1977 mit einer Gruppe gleichgesinnter Feministinnen die „Emma“ gründet – für Schwarzer allenfalls ein Cliffhanger ihrer lebenslangen Emanzipationsschlachten, fürs Erste womöglich dasselbe auf direktem Weg zur möglichen Fortsetzung.

Bis dahin überzeugt die Neue Schönhauser Filmproduktion im Auftrag von RBB, WDR und ARD Degeto mit einem Porträt, das ebenso wenig Angst vor großen Tieren hat wie dessen Titelfigur. Wenn „Fräulein Schwarzer“ mit anmaßendem Blick ihr Ziel verfolgt, Journalistin zu werden, brüllt sie lauter als die Löwen von Rudolf Augstein (David Rott) oder Henri Nannen (Sven-Eric Bechtolf) im Pressedschungel. Wenn „Pardon“-Chef Hans Nickel (Johannes Kühn) die Reporterin zum Dramatiker Fernando Arrabal (Stefan Haschke) schickt, bricht sein Chauvinismus unterm Rückgrat der Feministin.

Und wie Nina Gummich dieser unbotmäßigen Chuzpe Geist, Gesicht und Gesten verleiht, kommt es dem Original auch ohne markanten Überbiss nahe. Schwer zu sagen, ob dies mit Schauspieltalent zu tun hat oder der Tatsache, dass die Porträtierte noch lebt, also beurteilen kann, wie sie sich dargestellt fühlt. Im Interview beteuert Schwarzer, „Alice“ nicht nur gut, sondern „großartig“ zu finden. Die Fallhöhe allerdings ist größer als bei Toten. Und erzeugt Fragen.

Vielschichtigkeit fernab misogyner Klischees

Nach übertriebener Ehrfurcht zum Beispiel, Persönlichkeitsverletzungen, Manipulationspotenzial. Weil das Publikum „The Crown“ für realer hält als die echten Royals, wird Netflix zuweilen Geschichtsklitterung vorgeworfen. Dass die Sky-Serie „Il Capitano“ den nationalheiligen Fußballer Francesco Totti zur altrömischen Knalltüte persifliert, dürfte ihm kaum geschmeckt haben. Die gefallsüchtige Millionenbetrügerin Sorokin dagegen soll höchst begierig darauf gewesen sein, im Streamingporträt „Inventing Anna“ ein Denkmal zu kriegen. Und Schwarzer?

Attestiert der Regie trotz stereotyper Bildsprache und Akkordeonklängen über jeder Pariser Bistroszene „sehr dicht nachempfunden und in reale oder passend fiktive Szenen übersetzt worden“ zu sein. Kein Wunder: Einerseits verleiht ihr Gummich eine Vielschichtigkeit fernab misogyner Klischees. Andererseits könnte die streitlustige Feministin selbst damit leben. Und falls nicht, ginge man ihr – sofern an „Alice“ auch nur die Hälfte authentisch ist – beim Kampf gegen Abtreibungsverbote, Patriarchat, Prostitution mal besser aus dem Weg.

„Alice“, ARD, 30. November 2022, 20.15 Uhr, mit Nina Gummich

Von Jan Freitag/RND