Bilder einer Ukraine-Reise: 3500 Kilometer durch den Krieg – landeszeitung.de

Kiew. Als wir mit der 53-jährigen Ukrainerin Maja am Rande eines Marktes in Nikopol sprechen, wird Artilleriealarm ausgelöst. Niemand kümmert sich um das Heulen der Sirenen, die Menschen hier haben sich an den Krieg gewöhnt. Seit Monaten wird die Stadt fast täglich von den Russen am anderen Ufer des Flusses Dnipro beschossen. „Psychologisch ist es sehr schwierig hier“, sagt Maja. „Das Positive an der Sache: Ich habe durch den Stress zehn Kilogramm abgenommen.“ Die Hausfrau lacht und zieht den Saum ihres Pullis hoch, um zu zeigen, wie weit ihr Hosenbund ist.

Sie steht stellvertretend für die vielen Ukrainerinnen und Ukrainer, die dem Krieg zumindest in manchen Momenten mit Humor trotzen.

Maja, die ihren Nachnamen nicht nennen möchte, gehört zu den vielen Dutzend Menschen, die wir bei unserer gut zweiwöchigen Recherchereise durch die Ukraine getroffen haben. Wir haben mit Politikern und Diplomaten gesprochen, mit freiwilligen Kämpfern und mit Offizieren, mit Ärzten und Krankenschwestern, mit Geflüchteten und Helfern – vor allem aber mit etlichen ganz gewöhnlichen Menschen, deren Leben durch den Krieg aus der Bahn geworfen wurden.

Angst vor Raketenangriffen

Halina Stefanowa (40) etwa, deren Wohnung in Kiew durch eine vom Iran gelieferte russische Drohne in Schutt und Asche gelegt wurde – fünf ihrer Nachbarn wurden getötet. Oder Natalja Lukjanenko (63), deren Sohn die russischen Truppen in Butscha erschossen haben – sie weiß bis heute nicht, warum. In der Metropole Charkiw lebt Ljudmila Kiritschenko seit acht Monaten im Keller eines Hochhauses, die 75-Jährige hat Angst vor russischen Raketenangriffen. Aus demselben Grund haust Julia Michailenko (49) mit ihrer 16 Jahre alten Tochter und mehr als hundert weiteren Menschen in einer U-Bahn-Station in Charkiw.

In der Stadt Lyman im Donbass, aus der die Russen kürzlich vertrieben wurden, hat uns Switlana (38) erzählt, dass dort jetzt eigentlich alle einen Psychiater bräuchten. In Isjum und an anderen Orten haben wir mit Folteropfern gesprochen, in Saporischschja haben uns Ukrainer über ihre Angst vor einer Kernschmelze im nahen Atomkraftwerk berichtet. Dort hat uns auch Anton von seinen Sorgen erzählt: Seine schwangere Ehefrau hängt in der Stadt Cherson fest, deren Eroberung Ziel der ukrainischen Gegenoffensive im Süden des Landes ist. Zurück in Kiew, hat ein Militärarzt seine Erlebnisse im belagerten Azovstal-Stahlwerk und in der anschließenden russischen Kriegs­gefangenschaft mit uns geteilt. Die Fotos, die er uns auf seinem Handy gezeigt hat, sind kaum zu ertragen.

Viele weitere Menschen haben uns bereitwillig an ihrem Schicksal teilhaben lassen. Was sich dabei immer wieder gezeigt hat: Der russische Angriffskrieg hat die Gesellschaft in einem kaum vorstellbaren Ausmaß zusammen­geschweißt. Junge Ukrainerinnen und Ukrainer engagieren sich in Freiwilligenprojekten, um die Streitkräfte zu unterstützen: Beispielsweise Ilja (30), der vor dem Krieg IT-Manager war, jetzt aber in der Umgebung von Kramatorsk Bomben bastelt, die Russen töten sollen. Oder Ljubow Halan (26), deren Organisation in Kiew gegen Spenden Botschaften wie „Putin: Fuck off“ an die Besatzer auf Sprengsätze drucken lässt, die ukrainische Drohnen über russischen Stellungen abwerfen – mit den Spendengeldern werden weitere Kampfdrohnen gekauft.

Hoffen auf Waffenlieferungen

Halan sagt, Ziel allen Engagements sei es, „einen Völkermord zu verhindern“. Sie ist wie die überwältigende Mehrheit ihrer Landsleute überzeugt davon, dass der russische Präsident Wladimir Putin die Ukraine auslöschen möchte. Immer wieder haben unsere Gesprächspartner ihre Dankbarkeit gegenüber Deutschland zum Ausdruck gebracht – für die Bereitschaft, Geflüchtete aufzunehmen, und für die Luftabwehr­systeme, die unter anderem die Hauptstadt Kiew gegen russische Raketen schützen. Immer wieder sind wir aber auch darauf angesprochen worden, warum Deutschland bei der Lieferung schwerer Waffen wie beispielsweise Kampfpanzern so zögerlich ist. Sie argumentieren, damit werde der Krieg nicht verlängert, sondern schneller zu Ende gebracht. Blutvergießen und die humanitäre Katastrophe würden früher beendet.

Berichterstattung aus dem Krieg geht immer mit der Problematik einher, dass man als Journalist vor allem die Perspektive einer Konfliktpartei geboten bekommt. Bei diesem Krieg ist aber immerhin die Schuldfrage klar: Putin hat ihn angefangen und könnte ihn jederzeit beenden.

Die vielen Artikel, die aus unseren Gesprächen und Eindrücken entstanden sind, sind unter meinem Namen erschienen, unter den Fotos steht der meines Kollegen Andy Spyra. Wie bei fast jedem solcher Einsätze in Kriegs- oder Krisengebieten ist das Team, das die Geschichten überhaupt erst möglich macht, in Wahrheit größer: Unser ukrainischer Kollege Juri Schiwala (34) hat Themen vorgeschlagen, Gesprächspartner gefunden und übersetzt. Denis Denissow (32), der auch in der Formel 1 eine Karriere anstreben könnte, hat uns in seinem Auto stets sicher ans Ziel gebracht. Das ist eine Heraus­forderung, weil viele Straßen unpassierbar und zahlreiche Brücken gesprengt worden sind. Google Maps ist oft keine Hilfe mehr.

Mit der Bahn in den Krieg

An Dutzenden Checkpoints wurden wir angehalten. Mehr als 3500 Kilometer sind wir quer durchs Land gefahren. Die Strecke entspricht ungefähr der von Kiew nach Madrid. Zivile Flüge gibt es seit Kriegsbeginn nicht mehr in der Ukraine. Andy Spyra und ich sind mit dem Zug gereist: hin über Warschau und Chelm nach Kiew, zurück über Przemysl und Frankfurt (Oder) nach Berlin. Dass man mit der Bahn in den Krieg fahren kann, ist eine neue Erfahrung für uns gewesen – und zeigt, wie nah dieser Krieg in der Ukraine an Deutschland ist.

Vor dem Krieg war Juri Schiwala in Lwiw (Lemberg) als Selbstständiger unter anderem im Eventmanagement tätig, früher hatte er eine Band, die einige Hits produziert hat. Denis Denissow besaß unter anderem eine Pizzeria in Kramatorsk. Auf den langen Fahrten, bei den Kaffeepausen an den Tank­stellen oder beim Abendessen im Hotel haben uns die beiden ihr Heimat­land erklärt. Andy Spyra und ich waren in der Vergangenheit als Reporter in Krisenländern wie Afghanistan unterwegs gewesen, aber nicht in der Ukraine. Wir sind angetan von den Menschen, die uns so freundlich willkommen geheißen haben, und von dem Land, das viel moderner ist, als wir erwartet hätten.

Während in Deutschland noch immer längst nicht überall Kreditkarten akzeptiert werden, kann man in jedem Dorfladen in der Ukraine per Smartphone zahlen. Die Züge in der Ukraine sind pünktlicher als die in Deutschland. Bahnchef Oleksandr Kamischin schreibt dazu auf Twitter mit einem entsprechenden Hashtag, Krieg sei keine Entschuldigung für Verspätungen.

Lesja Kolossenko (48) war nach Kriegsausbruch mit ihrem Sohn nach Efringen-Kirchen in Baden-Württemberg geflohen, inzwischen ist sie nach Irpin bei Kiew zurückgekehrt. Sie wundert sich, dass in Deutschland weiterhin Festnetztelefone verbreitet sind und Prospekte von Discountern auf Papier gedruckt werden, statt einfach in der App zu erscheinen.

Der Döner in der Nähe unseres Hotels in Kiew, den ein Usbeke zubereitet, muss den Vergleich mit Berliner Pendants nicht scheuen. Der Kaffee in der Bude daneben ist ausgezeichnet. Die Restaurants in der Hauptstadt sind voll, im Berufsverkehr kommt es zum Stau. Der Krieg ist zwar präsent, fast jeden Tag gibt es Luftalarm, aber dennoch geht das Leben weiter, so gut es sich eben einrichten lässt.

In der Bevölkerung ist der Kam­pfeswille gigantisch, die Zuversicht ebenso. Während die russischen Besatzer nach Kriegsbeginn kurz vor Kiew standen, sind sie nun auf breiter Front in der Defensive. Wen wir auch gefragt haben: Alle haben gesagt, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnen wird. Juri Schiwala meint: „Wir haben gar keine Alternative.“

Von Can Merey/RND