Das gierige Herz der Industrie – landeszeitung.de

Dass etwas nicht stimmt, merkt Jarren Peters am Geruch. Es riecht anders als sonst. Nicht nach Erdgas, nicht nach Benzin. „Und Fruchtaroma“, sagt Peters, „ist das auch nicht.“ Was er riecht, ist Spaltgas – ein Gemisch aus Wasserstoff und Kohlenmonoxid, entstanden aus der Reaktion von Kohlenwasserstoffen mit Wasserdampf. Schwer zu beschreibender Geruch. Um ihn kennenzulernen, ist Peters mit den Älteren damals, vor zwölf Jahren, als er selbst ein junger Kollege war, mitgelaufen zwischen all den Rohren, Öfen und Schornsteinen. Manchmal sind sie dann mit ihm stehengeblieben, haben innegehalten und gesagt: Riechst du das? Das ist Spaltgas. „Man schaut und riecht sich das so an“, sagt Peters.

Wenn er das Spaltgas riecht, dann heißt das: Es gibt ein Leck. Irgendwo, an einem der vielen Kilometer Rohre und Geflechte, gibt es ein Loch. Und Jarren Peters muss es finden. Weil es nicht gut ist, wenn das Herz ein Loch hat.

Mehr Gasverbrauch als Berlin

Die BASF in Ludwigshafen ist einer der größten deutschen Industriekomplexe. Kilometerweit zieht sich das Werk an der rechten Seite des Rheins entlang, ein gewaltiger Organismus aus Gängen, Hallen, rauchenden Türmen, Lichtern und vor allem: Rohren, unzählbar vielen, kilometerlangen. 39.000 Menschen arbeiten hier. Aber was man sieht, sind eigentlich nur Rohre.

Inmitten dieses Organismus, vom Rest kaum zu unterscheiden, stehen zwei besondere Anlagen, beide je zehn Fußballfelder groß. Die Steamcracker, so heißen sie, versorgen den Rest des Werks mit Rohstoffen. „Das hier“, sagt der Betriebsleiter, Klaus-Dieter Mohl, Peters’ Chef, „ist die Anlage im Herzen des Verbundes.“ Und damit: im Herzen der deutschen Wirtschaft.

„Die BASF verkörpert geradezu die Zweideutigkeit der Deutschland-AG“, sagt der britische Wirtschaftshistoriker Adam Tooze. Ein Traditionsunternehmen, fast 160 Jahre alt, als Investor und Handelspartner geschätzt, gute, begehrte Arbeitsplätze.

Allerdings, und das ist in diesen Tagen Gas- und Ölmangel in Europa, verbraucht dieses Unternehmen sehr, sehr viel Gas: Bis zum Beginn der Krise 37 Terawattstunden im Jahr, mehr als ganz Berlin. Ein Großteil der Energie kam bislang aus Russland, wo der Konzern über die Tochter Wintershall eng ins Gasgeschäft verstrickt war. Bevor Russland seinerseits die Leitungen kappte, warb das Unternehmen massiv für weitere Importe aus Moskau. „Die Ludwigshafener stehen geradezu für die Verquickung von Geschäft, Macht und Geopolitik“, sagt Tooze. Und dass das Unternehmen gerade jetzt ein neues Werk in China baut, bestätigt diese These eher, als dass es sie widerlegt.

Doch zugleich ist die chemische Industrie im Allgemeinen und die BASF im Speziellen als Lieferant von Ausgangsstoffen ein Taktgeber für weite Bereiche der gesamten Wirtschaft. Es ist nicht nur die chemische Industrie selbst, die mit drastischen Worten und Warnungen auf ihre zentrale Rolle hinweist. „Ich sehe gerade mit Sorge, was sich in der chemischen Industrie abspielt“, sagte zum Beispiel auch der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) vor wenigen Wochen. Da gebe es zahlreiche Produktionsrückgänge und Produktionsverlagerungen ins Ausland, aus seiner Sicht ein Alarmsignal. „Ohne chemische Vorprodukte können Sie beispielsweise kein Auto bauen.“ „Diese Entwicklungen“, sagt auch Anna Wolf vom Münchner Ifo-Institut, „haben Auswirkungen auf die gesamte Volkswirtschaft.“ Bedrohen Ukraine-Krieg und Energiekrise nun also das Herzstück der deutschen Industrieproduktion? Oder sind die Folgen doch kleiner als anfangs befürchtet?

Stoffe für Enteiser – und Deos

Der Arbeitsplatz von Jarren Peters und Hans-Dieter Mohl verdankt seinen Namen seiner Arbeitsweise. Im Steamcracker, zu Deutsch Dampfknacker, wird Rohbenzin – Fachbegriff Naphtha – mit 850 Grad heißem Dampf vermischt. Dampf und Hitze brechen die längeren Molekülketten des Naphthas auf, hacken sie klein, bis nur noch drei, vier, fünf Kohlenstoffatome zusammenhängen. Die Stoffe, die dann entstehen, kennt man zum Teil kaum mit Namen. Es sind Ethylen, Polypropylen, Butadien, Pyrolysebenzin, Wasserstoff.

Was man aber kennt, sind die Stoffe, zu denen sie dann wiederum verarbeitet werden. Kunststoffe, Farben, Desinfektionsmittel, Lacke, Pflanzenschutzmittel, Kosmetik, Reinigungsmittel, Flugzeugenteiser, Tiernahrung, Vitamine, Geruchsstoffe, Aromen. Das natürliche Citral zum Beispiel ist der Hauptbestandteil von Zitronengrasöl. Das künstlich erzeugte Öl, Zusatzstoff in Cremes, Deos, Rasierwässern, hat hier seinen Ursprung, in diesem riesigen Gewirr aus Rohren, Schornsteinen, Öfen.

Ob sie sich manchmal bewusst machen, worin all die Stoffe stecken, die sie hier produzieren? Beim Gang durch den Supermarkt, beim Blick auf die Straße? Nein, sagt Mohl. Weil es einfach zu viel wäre.

Für all das brauchen Mohl und Peters Energie. Gewaltige Mengen. Zusammen mit der Ammoniakproduktion und Acetylenanlage sind ihre Cracker die größten Verbraucher dieses riesigen Werks. Weil das Dampfgemisch hier nicht nur auf 850 Grad erhitzt, sondern danach auch wieder auf minus 150 Grad heruntergekühlt werden muss. Zwei Millionen Tonnen Naphtha verarbeiten sie hier pro Jahr, ein Siebtel der Gesamtmenge in Deutschland.

Teure Chemie, teurer Alltag

Die Anlage ist nicht nur das Herz des weltgrößten Chemieproduzenten. Sie hat auch, so klingt es bei den Menschen, die hier arbeiten, eine Seele. Mohl, Peters und ihre 150 Kolleginnen und Kollegen haben Dutzende Monitore, um zu überwachen, was in den Rohrsystemen und den 18 Öfen passiert. Aber das reicht nicht, um zu verstehen, was darin wirklich vor sich geht. Dazu müssen sie selbst hinausgehen. Müssen sehen, wo die Rohre nicht nur rot glühen, sondern schon weiß, weil sich innen das Koks ablagert. Oder sie müssen die Temperatur in den Ofen schießen, wie sie hier sagen, müssen sie also durch Luken messen.

„Auch bei uns gilt: Entscheidend ist auf dem Platz“, sagt Mohl. „Man kann Dinge riechen, sehen, hören, die man auf den Monitoren nicht sieht. Das hält die Anlage am Leben.“ Die Seele des Konzerns zu verstehen ist eine langwierige Aufgabe – zehn Jahre, so sagen sie bei BASF, brauche man, um wirklich ein Gespür für diese Anlagen zu bekommen.

Das Gas, das sie hier, in diesem Herzstück der Anlage verfeuern, gewinnen sie zum Teil auch aus dem Rohbenzin, aus dem Naphtha, das sie verarbeiten. Naphtha ist, immerhin, nicht knapp. Aber es ist teurer als früher, ein Drittel gegenüber 2019. Und weil das, was Mohl und Peters hier produzieren, auch in so vielen anderen Dingen steckt, wird auch alles andere teurer. Gestiegene Kosten, heißt es beim Verband der Chemischen Industrie, könnten „oft nur zum Teil an die Kunden weitergegeben werden“.

Die Branche insgesamt sieht das Münchner Ifo-Institut auch deshalb in einer schwierigen Situation. Der Geschäftsklimaindex für die chemische Industrie hat sich im Oktober noch einmal verschlechtert, von minus 11,7 auf minus 19,9. Die Unternehmen verlagerten Produktion, bauten Stellen ab. „Ich glaube nicht, dass die Warnungen und Einschätzungen der Industrie übertrieben sind“, sagt Anna Wolf vom Ifo-Institut.

Auch die BASF passt in dieses Muster. Der Konzern gibt, so hat es Chef Martin Brudermüller gerade im „Handelsblatt“ vorgerechnet, dreimal so viel für Gas aus wie 2020, hat Teile der Produktion abgeschaltet und will 500 Millionen Euro einsparen. All das sind Zeichen einer schwierigen Situation, einerseits.

Andererseits lag der Umsatz der BASF im dritten Quartal knapp 13 Prozent über dem Vergleichszeitraum des Vorjahrs. Auf die Gaspreisbremse, politisch mühsam verhandelt und als Sicherheitsnetz für die Wirtschaft gepriesen, will BASF von sich aus verzichten.

Es passt zu einer Philosophie, über die Brudermüller kürzlich im „Handelsblatt“ sprach: „Es ist eine Illusion zu hoffen, mit Staatsgeld durch die Energiekrise zu kommen und dann in den alten Strukturen weiterzumachen.“ Es müsse „auch eine Eigenverantwortung für Bürger und Unternehmen geben“, sagt Brudermüller. Ganz so groß, darf man daraus schließen, kann die Not dann wohl nicht sein.

Das Ende der Dreckschleuder

Das weit größere Problem aber könnte ohnehin ein anderes sein. Denn die beiden Steamcracker sind, so muss man es wohl sagen, Dreckschleudern: Sie stoßen durch die Schornsteine, die aus dem Rohrgeflecht gen Himmel ragen, besonders viel CO₂ aus.

Deshalb hat sich BASF Einsparziele gesetzt, die der Letzten Generation bescheiden erscheinen mögen, hier aber als besonders ehrgeizig gelten: Bis 2030 will der Konzern seine Treibhausgasemissionen gegenüber 2018 um ein Viertel senken – und bis 2050 klimaneutral sein. Wer durch das Werk geführt wird, über die Benzolstraße, die Ammoniakstraße und die Ethylstraße, der trifft fast überall auf Bereiche, an denen bis zur Mitte des Jahrhunderts vieles anders sein soll. Die beiden Herzstücke der Anlage, 1965 und 1980 gebaut, sollen auf Strom aus erneuerbaren Energien umgestellt werden. Eine Pilotanlage, weltweit die erste ihrer Art, soll im kommenden Jahr in Betrieb gehen.

Bis dahin sollen die Steamcracker aber vor allem eines: so viel und so lange wie möglich laufen. Mohl und Peters halten sie rund um die Uhr in Betrieb, auch nachts. Nur um das Koks aus den Rohren zu kratzen, halten sie die Anlage an – und um die Rohre zu tauschen, die nach gut fünf Jahren verschlissen sind, vom heißen Gas. „Anfahren und Abfahren ist Stress für eine Anlage“, sagt Peters, das wollen sie möglichst vermeiden. Auch weil es für andere Anlagen, für andere Kunden Stress bedeutet, wenn sie hier stillstehen. Von „Respekt“ spricht Mohl, den er manchmal empfinde. Für die Komplexität der eigenen Anlage. Und für die Komplexität dessen, was daran hängt.

Von Thorsten Fuchs/RND