Berlin. Die Instrumentalisierung von Kindern und Jugendlichen für die Propaganda des Kreml hat mit Beginn des russischen Angriffskrieges in der Ukraine massiv zugenommen.
Das Regime knüpft dabei an Erfahrungen und Elemente aus der Sowjetzeit und speziell der Stalinära an, hat die Osteuropa-Historikerin Yuliya von Saal vom Münchner Institut für Zeitgeschichte beobachtet.
„Der Versuch, auf Kinder im Sinne des Regimes einzuwirken, ist nicht neu, aber mit Kriegsbeginn wurde eine neue Spirale in Gang gesetzt“, sagt die aus Belarus stammenden Wissenschaftlerin im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND).
So gäbe es beispielsweise in den Schulen jetzt spezielle Lehrstunden unter dem Titel „Gespräche über Wichtiges“, in denen den Kindern unter anderem Wladimir Putins Verklärung der blutigen Aggression als „Spezialoperation“ vermittelt wird.
Schon vor Jahren brachte die Interpretin Anna Kuwytschenko mit einer Kindergruppe in Militäruniform den Song: „Onkel Wowa, wir sind mit dir!“ heraus, der dem russischen Präsidenten (Wowa ist die Koseform von Wladimir/Wolodja) als „großem Kommandeur“ unbedingte Gefolgschaft versicherte.
Heute werden Kinder dazu angehalten, sich „kreativ-spielerisch“ mit dem vermeintlichen russischen Sieg zu beschäftigten, etwa indem ganze Schulen mit dem Kriegssymbol Z beklebt werden, das Kinder zuvor gemalt haben, berichtet von Saal.
Die Wissenschaftlerin, die seit Jahren auch durch persönliche Kontakte das Geschehen in Russland verfolgt, kann viele Beispiele dafür nennen, wie „Kinder massiv bearbeitet“ werden. „In den Schulen wird jetzt gemeinsam die russische Nationalhymne gesungen und es wird die Fahne gehisst“, erläutert von Saal.
Schon vor Jahren kam ein ganzer Gedichtband heraus, der Putin gewidmet ist. Krieg werde heute nicht mehr als leidvolle Erfahrung vermittelt, sondern als Ereignis, bei dem Russland von Sieg zu Sieg eilt.
Vom Parlament, der Duma, wurde auf Initiative des Präsidenten schon im Jahr 2020 ein Gesetz verabschiedet, das eine „patriotische Erziehung“ in den Schulen vorschreibt. „Jetzt kehrt auch der militärische Drill zurück, wie es ihn schon zu Sowjetzeiten in speziellen Unterrichtsstunden gegeben hat“, berichtet von Saal.
Bei den Eltern würden bewusst nostalgische Gefühle angesprochen, dass im Prinzip die Kindheit in der Sowjetunion die glücklichste war.
Dabei gehen Kommerz und Propaganda Hand in Hand. „Es wird beispielsweise sehr viel mit Bildern von Kindern aus der Sowjetzeit in der Produktwerbung gearbeitet, etwa auf den Verpackungen von Schokolade oder Eis“, erklärt von Saal. Es gehe um eine nostalgiefördernde Visualisierung, die die Illusion von einer glücklichen sowjetischen Kindheit ohne Makel aufrechterhalten soll.
Möglich wird diese Verklärung durch die abschreckenden Erfahrungen der Menschen beim Zusammenbruch der Sowjetunion mit Wirtschaftschaos, Hyperinflation und Kriminalität Anfang der 1990er-Jahre. Dort knüpft die „gute Erzählung“ von Putin an, der wieder Ordnung schuf.
„Seit Putin an der Macht ist, arbeitet er an einem positiven Bild von sich selbst und von der sowjetischen Geschichte“, sagt von Saal. „Mit Beginn des Krieges hat das noch einmal eine neue Dimension angenommen.“
Wie schon in der Zeit nach der Oktoberrevolution von 1917 werden Kinder heute wieder als „wichtige Staatsressource“ betrachtet, aus der die Staatsdiener und die Soldaten von morgen rekrutiert werden können, schätzt von Saal ein und fügt hinzu: „In jeder Diktatur zählt der einfache Mensch nicht viel, wenn der ganze Staat nur noch auf eine wichtige Person reduziert wird.“
In Russlands Nachbarland Belarus, das durch den Kurs von Diktator Alexander Lukaschenko wirtschaftlich, politisch und militärisch auf das Engste mit Putins Russland verbunden ist, kommen Polizisten und Sicherheitskräfte jetzt in die Schulen, um dort in Vorträgen ein positives Bild vom Machtapparat zu vermitteln.
„Früher hat es das in meiner Heimat nicht gegeben“, sagt Yuliya von Saal. „Aber nach der blutigen Niederschlagung der Massenproteste vom Sommer 2020 hat auch dort die Infiltration stark zugenommen.“
Auf Initiative von Afghanistan-Veteranen entstand vor den Toren der Hauptstadt Minsk schon vor Jahren mit Unterstützung Lukaschenkos der Freizeitpark „Stalin-Linie“, der vom Namen her an die gleichnamige Verteidigungsfront im Zweiten Weltkriegs erinnert.
Yuliya von Saal sieht darin weniger einen würdigen Erinnerungsort als vielmehr ein „militärisches Disneyland“, in dem die Besucher mit echten Panzern fahren und auch schießen können.
Auch dies sei ein Bespiel dafür, wie Propaganda und Kommerz ineinandergreifen. „Das sind zwei Seiten einer Medaille, die letztlich der Legitimation eines militanten Systems dienen“, sagt die Historikerin.
Von Jan Emendörfer/RND