„Die Iraner können den Kampf gewinnen“ – landeszeitung.de

Shirin Neshat gehört zu den bekanntesten iranischen Künstlerinnen und lebt heute in New York. Frauen stehen in den Werken der 1957 geborenen Tochter eines Arztes im Zentrum. Schon vor dem Sturz des Schahs 1979 ging sie in die USA und studierte in Kalifornien Kunst. Bis in die Neunziger kehrte Neshat immer wieder in ihr Heimatland zurück. Dann erschien ihr dies als zu gefährlich. Bekannt wurde sie mit der Fotoserie „Women of Allah“, in der sie bewaffnete Frauen im Tschador porträtierte. Shirin Neshat gewann 1999 bei der Venedig-Biennale mit ihren Videos den Internationalen Preis. Ihr Kinodebüt „Women Without Men“ (2009) über die Unruhen im Iran während der Fünfzigerjahre erhielt beim Venedig-Filmfestival die Regietrophäe. In ihrem dystopischen Kinofilm „Land of Dreams“ erzählt sie von einer aus dem Iran stammenden Frau, die als „Traumfängerin“ arbeitet: Die US-Regierung will die Bevölkerung über deren Träume kontrollieren.

Frau Neshat, Ihr Kinofilm „Land of Dreams“ erzählt die Geschichte einer Immigrantin in den USA: Wie stark sind die autobiografischen Bezüge?

Das ist wahrscheinlich die persönlichste Arbeit, die ich je gemacht habe. Allerdings ist alles, was ich gemacht habe – von der Fotografie über das Video bis zum Film – bis zu einem gewissen Grad persönlich. Es geht immer um meine Ängste, Befürchtungen, Obsessionen. Doch weisen die Arbeiten über meine eigene kleine Existenz hinaus. Stets drückt sich darin Kritik an Religion, Politik, Geschichte aus. Wenn es in „Land of Dreams“ nun um Amerika geht, ist dies natürlich ein Film aus der Perspektive einer iranischen Einwanderin. Ich werfe Fragen über die Überwachung und die Kontrolle auf. Dass sich bei mir Amerika in naher Zukunft in eine autoritäre Regierung verwandelt, könnte darauf zurückzuführen sein, dass ich aus dem Iran komme.

Waren die USA das Land Ihrer Träume, als Sie dort in den Siebzigerjahren eintrafen?

Damals mehr als heute. Als Kind war ich fasziniert von Amerika. Für mich war das eine Art Hollywood. Los Angeles mit gutem Wetter, wunderhübschen Menschen, schicken Autos. Ich konnte es nicht abwarten, bis mein Vater mich dorthin schickte, so wie er auch meine Geschwister dorthin geschickt hatte.

Und wie sah die Wirklichkeit aus?

Zu meiner Überraschung gefiel es mir zunächst überhaupt nicht. Erst zehn, 15 Jahre später, begann ich, dieses Land zu wertschätzen. Die USA sind mir eine neue Heimat geworden. Hier wurde ich eine bekannte Künstlerin. Und doch: In den vergangenen zehn Jahren hat sich manches geändert.

Was denn?

Die Idee von Demokratie und von Freiheit verblasst. Rassismus, Diskriminierung, der neue Konservatismus, die ablehnende Haltung gegenüber Einwanderung: All das gab es in dieser Form nicht. Das Gefühl der Sicherheit geht verloren.

Der Hauptfigur Ihres Films gelingt es nicht, von ihrem Mutterland Iran loszukommen. Haben Sie es je versucht?

Es gibt da einen Spruch: Es ist möglich, einen Iraner aus dem Iran zu holen. Aber es ist unmöglich, den Iran aus einem Iraner herausholen. Man muss allerdings unterscheiden: Iraner, die freiwillig gehen, haben ein anderes Verhältnis zu ihrem Land. Menschen, die aus politischen Gründen gehen mussten, kommen niemals los davon.

Wie ist es in Ihrem Fall?

Ich hatte nie eine Wahl. Bis heute lebt meine ganze Familie im Iran. Ich habe sie seit Jahrzehnten nicht gesehen. Dieses grundlegende Recht ist mir genommen worden. Es ist schwer, den Iran hinter mir zu lassen. Ich habe oft gespürt, dass ich diese nostalgischen Gefühle stoppen sollte. Aber es klappt nicht.

In Ihrem Film sammelt die US-Regierung Träume von Menschen, um diese zu kontrollieren: Von welchem Land träumen Sie, vom Iran oder von den USA?

Von beiden. Ich erwische mich auch oft dabei, dass ich mich frage: Denke ich gerade in Farsi oder in Englisch? Und wenn ich träume: Tue ich das in beiden Sprachen? Die Wahrheit ist wohl, dass ich ein hybrider Mensch bin. Ich war 17 Jahre alt, als ich den Iran verließ. Ich spreche fließend Farsi. Ich lebe mit einem iranischen Mann, meinem Co-Regisseur Shoja Azari. Meine New Yorker Community ist iranisch. Aber die längste Zeit meines Lebens habe ich in Amerika verbracht. Meine Träume haben oft mit meinen Ängsten zu tun, egal ob im Iran oder in Amerika.

Ein Satz in Ihrem Film lautet, dass Ängste sich in unseren Träumen fortsetzen: Haben Sie Albträume seit dem Tod der kurdischen Iranerin Masa Amini, die nach Ansicht der Sittenpolizei ihr Kopftuch nicht korrekt trug?

Interessant, dass Sie das fragen. In den vergangenen Wochen hatte ich viele gewalttätige Träume. Meinem Mann geht es genauso. Aber wir wurden ja auch überschwemmt mit Bildern von iranischen Jugendlichen, die in den Straßen von Teheran zusammengeschlagen werden, einer nach dem anderen. Es ist eine albtraumhafte Erfahrung, so viele Stunden mit gewalttätigen Bildern zu verbringen.

Wie informieren Sie sich über die Geschehnisse?

Wir schauen beim ersten Morgenkaffee, ob sich die Demonstrationen fortgesetzt haben oder ob die Regierung sie gestoppt hat. Wir schalten die oppositionellen Medien ein, Iran International TV, BBC Persia, Satellitenprogramme, auch Insta­gram. Zu meiner Überraschung hat sich der Schwung der Proteste jeden Tag weiterentwickelt.

Haben Sie Kontakt zu Ihrer Familie?

Ich telefoniere mit meiner Mutter täglich um 8.30 Uhr New Yorker Zeit. Und mit meinen Schwestern spreche ich fast jeden zweiten Tag, wenn es das gekappte Internet zulässt. Allerdings haben viele Menschen im Iran Angst, offen zu reden. Sie befürchten, dass die Regierung zuhört, was lächerlich ist. Aber die Angst vor der Überwachung ist groß. Manche plaudern lieber übers Wetter. Ich habe aber einige mutige Freunde, die sich nicht scheuen, die Regierung zu verfluchen.

Sie sind während der Schah-Ära im Iran aufgewachsen. Haben Sie jemals einen Hidschab getragen?

Ja, denn ich habe in einer sehr religiösen Stadt gelebt. Es war verboten, bestimmte Gegenden ohne Kopftuch zu betreten. Zugleich waren meine Familie und unsere Freunde sehr modern. Ich war also sowohl mit einer eher säkularen als auch mit einer nicht säkularen islamischen Tradition konfrontiert.

Ist die Religion die Ursache für diesen Kampf auf den Straßen von Teheran?

Da muss ich ein wenig ausholen: Die iranische Revolution von 1979 war nicht als islamische Revolution gedacht. Es war ein Volksaufstand, bei dem sich Studierende, Intellektuelle, Schriftsteller und der Klerus zusammentaten. Die Religion spielte nur eine untergeordnete Rolle. Dann kam Chomeini an die Macht. Als geistlicher Führer hat er die Revolution gekapert und sie zu einer islamischen gemacht. Und was geschieht heute? Nach 43 Jahren des religiösen Zwangs sagen die jungen Menschen: Wir wollen nicht länger in einer religiösen Gesellschaft leben. Religion sollte eine Wahlmöglichkeit sein. Es sollte so sein, wie es vor der Revolution war. Wir wollen die Freiheit haben, diese Wahl zu treffen.

Sehen Sie die Chance, dass die Regierung zu Konzessionen bereit ist?

In der Regierung sitzen Hardliner. Für sie gibt es keinen Iran ohne die Islamische Republik. Eine Koexistenz zwischen Regierung und Regierten ist unmöglich. In so vielen Videos aus dem Iran ist das zu sehen: Die jungen Leute sind so wütend über den religiösen Druck.

Haben die jetzigen Proteste eine andere Qualität als jene 2009, als die Grüne Bewegung nach den Präsidentschaftswahlen auf die Straße ging?

Auf jeden Fall. 2009 haben wir über Reformen gesprochen. Damals ging es darum, innerhalb der Regierung eine Reformpartei zuzulassen. Es gab die Hardliner und die Reformpartei, zu der Mir Hossein Mussawi und Mehdi Karroubi gehörten, jene Kandidaten, die nicht gewählt worden waren. Die grüne Bewegung war ein Protest gegen diesen Wahlbetrug. Damals wollten die Studierenden die Regierung nicht stürzen. Sie wollten etwas Demokratie. Heute wollen die Protestierenden die Regierung loswerden. Das ist ein großer Unterschied.

Gilt das für die Mehrheit der Iraner?

Wohlhabende Iraner können moderat sein. Aber die armen Leute, die mit Arbeitslosigkeit und Wirtschaftskrise zu kämpfen haben, sagen: Wir wollen das alles nicht mehr. Auch die Privilegierten müssen begreifen, dass bei dieser brutalen, faschistischen, terroristischen Regierung Reformen nicht mehr relevant sind.

Frauen stehen im Zentrum der Proteste: Woher nehmen sie die Kraft?

Meiner Meinung nach neigt jeder Mensch, egal ob Frau oder Mann, der an die Wand gedrückt wird, dazu zu rebellieren. Ich habe viele Arbeiten zu diesem Thema gemacht. In meinem Video „Turbulent“ singt ein Mann vor Publikum ein traditionelles, schönes Lied. Er kann seine Kunst entfalten. Dann singt eine Frau – ohne Publikum, weil es Frauen verboten ist, öffentlich zu singen. Deshalb ist ihre Musik radikal und bricht alle Regeln. Sie singt voller Wut. Er wird zum Konformisten, sie zu einer Rebellin.

Können die Menschen im Iran diesen unfairen Kampf gewinnen?

Ja, das können sie. Wenn sie zusammenhalten. Sie haben die Bilder gesehen: Beinahe 100.000 haben in Berlin protestiert, 50.000 waren es in Toronto, ebenso viele in Los Angeles. Zum ersten Mal seit 43 Jahren passiert so etwas. Wir sehen verschiedene Fraktionen von Iranern, reiche, arme, säkulare, nicht säkulare, was auch immer. Sie kämpfen innerhalb und außerhalb des Irans für ein Ziel: Sie wollen diese Regierung loswerden. Dieses Einigkeit ist ein wunderbares Ereignis. Wir haben eine gute Chance, diese faschistische Regierung loszuwerden.

Wie wichtig ist die internationale Solidarität?

Sehr wichtig. Und zwar für alle: Sollten die iranischen Frauen im Iran verlieren, dann ist das schlecht für alle Frauen in der Welt. Dies ist quasi die erste von Frauen angeführte Revolution. Sie kämpfen für Menschenrechte. Das iranische Volk riskiert sein Leben gegen die Tyrannen und inspiriert die Welt. Geografische und kulturelle Barrieren sind nicht mehr relevant. So wie die Corona-Pandemie keinen Unterschied zwischen Deutschland, Afrika und dem Iran gemacht hat, müssen wir verstehen, dass die iranische Sache genauso unsere ist. Wir können uns nicht nur um unsere eigene Familie kümmern. Das gilt genauso für die Hungersnot in Somalia wie für den Krieg in der Ukraine. In der Pandemie sollten wir gelernt haben, dass wir alle Teil derselben Geschichte sind. Wir müssen großzügig und barmherzig sein.

Hilft es, wenn sich Prominente in aller Welt die Haare abschneiden?

Wenn ich ganz ehrlich bin, würde ich es lieber sehen, wenn sie mit ihren Regierungen über die Schließung ihrer Botschaften im Iran sprechen. Glauben Sie wirklich, dass die Islamische Republik Iran sich Sorgen darüber macht, dass sie als eines der brutalsten Regime wahrgenommen wird? Aber es wäre dem Regime nicht egal, wenn die deutsche Regierung die Schließung ihrer Botschaft im Iran erwägt.

Sollten die westlichen Länder noch mit dem Iran über das Atomabkommen debattieren?

Ich denke nicht, dass sie mit einer Regierung, die das Volk in keiner Weise vertritt, über irgendetwas verhandeln sollten. Was kann man mit einer Regierung zu schaffen haben, die ihre eigenen Kinder tötet? Für uns ist das eine terroristische Gruppe. Sie sollte sanktioniert und in die Enge getrieben werden. Ich vermute, dass die Mehrheit der iranischen Bevölkerung so denkt.

Ist der Iran für Sie ein Land der Verzweiflung oder der Hoffnung?

Ein Land der Hoffnung! Unser Volk ist dafür bekannt, niemals aufzugeben. Schauen Sie sich unsere Geschichte an: Wir wurden von vielen Diktatoren beherrscht, aber wir revoltieren immer wieder aufs Neue. Der Geist des iranischen Volkes ist trotzig. Ich weiß nicht, wie lange es dauern wird. Aber ich weiß, dass die Iraner nicht aufgeben.

Glauben Sie, dass Sie jemals in den Iran zurückkehren können?

Ob ich zurückkehre oder nicht, ist nicht wirklich wichtig. Es gibt entscheidendere Dinge. Aber ja, auf einer persönlichen Ebene würde ich mir so sehr wünschen, meine Mutter zu sehen, die ich sonst nie wiedersehen werde.

Von Stefan Stosch/RND