Fußballfieber? Keine Spur. Deutschland hadert nicht erst nach dem 1:2 gegen Japan mit dem umstrittensten Turnier aller Zeiten in Katar. Die TV-Sender wagen den schmerzhaften Spagat zwischen Party und Politik. Aber Millionen wenden sich ab. Szenen aus einem ratlosen Fußballland.
Stell dir vor, es ist WM und kaum einen interessiert‘s. Keine Fähnchen an den Autos. Kaum Public Viewing. Kein Bock. 214 Millionen Euro haben ARD und ZDF für das Recht bezahlt, 48 der 64 Spiele dieser Wüsten-WM in Katar live zeigen zu dürfen. Doch dieses Recht entpuppt sich in diesen Tagen als Pflicht. Der Bonus wird zur Bürde.
Denn wie soll man als Sender sein teures Produkt präsentieren, ohne sich zum Fifa-Kollaborateur zu machen?
Jochen Breyer, WM-Moderator, Sportreporter im ZDF und RND-Kolumnist weiß als passionierter Wanderer, was eine Gratwanderung ist. Keine jedoch dürfte so schwierig, so anspruchsvoll und so riskant sein wie die mediale Gratwanderung, auf die sich Breyer und seine TV-Kollegen in diesen Tagen begeben haben.
„So ehrlich muss man sein: Wir sind als übertragender Sender auch Teil der PR-Show“, sagte Breyer im WM-Studio in Mainz, das sich ARD und ZDF teilen. Und dann zeigte das ZDF genau diese „PR-Show“ in voller Länge: die bizarre Eröffnungsfeier aus Doha, in der sich Katar für „Inklusion, Toleranz, Diversität“ feierte, während verhüllte Sängerinnen mit dem Mikrofon unter dem Schleier Lieder von Respekt und Vielfalt sangen. Die britische BBC verweigerte sich dem Mietjubel und den Sonntagsreden. Sie zeigte ersatzhalber eine kritische Dokumentation.
Die Deutschen und die WM: Kein einfacher Doppelpass
Auch Breyer hat eine kluge, präzise Reportage über die Lage im Unrechtsstaat Katar gedreht, die in der skandalösen Aussage des katarischen WM-Botschafters gipfelte, Homosexualität sei ein „geistiger Schaden“. Es herrschte kein Mangel an strengen, öffentlich-rechtlichen Recherchen über „Die WM der Schande“ (WDR), die „Geheimsache Katar“ (ZDF), die „WM der Lügen“ (ARD), die „Dunklen Seiten der WM“ (NDR) und die „Gier des Fußballs“ (ZDF). Die televisionäre Begleitung des Turniers selbst aber ist bislang ein ziemlich verkrampfter Medienstunt. Party und Politik? „Das ist kein einfacher Doppelpass“, gibt ARD-WM-Teamchef Harald Dietz zu.
Fußball war nie ein „guilty pleasure“
„Jetzt geht‘s um Sport“, hoffte ARD-Kommentator Tom Bartels gestern Nachmittag beim Spiel der deutschen Mannschaft gegen Japan. Gewiss kann ein Spielreporter nicht permanent Korruption und Ausbeutung geißeln. Doch in jedem Moment ist bei ARD, ZDF und Magenta TV zu spüren, dass Sport und Politik längst nicht mehr zu trennen sind.
Das zeigte nicht zuletzt die Aktion der deutschen Spieler beim Mannschaftsfoto vor Anpfiff: Man hielt sich in Maulkorbmanier die Münder zu – als Protest gegen das traurige, unverständliche Verbot der „One Love“-Kapitänsbinde durch die Fifa.“ Uns die Binde zu verbieten ist wie den Mund zu verbieten. Unsere Haltung steht“, twitterte der DFB. Eine Kompromissgeste. Aber immerhin: ein Signal. Mehr war offenbar nicht drin.
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„Wer von uns Fußballern erwartet, dass wir unseren Pfad als Sportler komplett verlassen und unsere sportlichen Träume, für die wir ein Fußballerleben lang gearbeitet haben, aufgeben, um uns politisch noch deutlicher zu positionieren, der wird enttäuscht sein“, schrieb Thomas Müller bei Instagram.
Fußball war nie ein „guilty pleasure“, ein schambesetztes, heimliches Vergnügen. Sein Reiz bestand in seiner Einfachheit und (vermeintlichen) Unschuld: 22 Spieler, zwei Tore, ein Ball. Und nun? Gucken oder nicht? Es ist eine individuelle Entscheidung. Aber allein, sie treffen zu müssen, irritiert.
Fußball erlebt Bedeutungskrise in Deutschland
Man kann ja nicht mit nur einem Auge zugucken oder Hansi Flicks Truppe nur einen Daumen drücken. Der schwierige Balanceakt führt dazu, dass sich Millionen deutsche Zuschauer dem Krampf verweigern. Denn sie fühlen: Alles, was im Fußball falsch läuft, gipfelt in diesem Fehlpass von einem Turnier. Am Montag, dem zweiten Turniertag, erreichte keine der drei WM-Partien auch nur annähernd fünf Millionen Zuschauer. Die erste Abendpartie bei der WM 2018 sahen 13 Millionen Menschen.
Überraschend viele Deutsche verzichten dankend auf die „bekloppte Idee“ (Robert Habeck). Und die Fußball-WM, üblicherweise ein Hochamt des kollektiven Erlebens, eine vierwöchige landesweite Auszeit mit der Chance auf Glück, wird zum Zerrbild, das in düsteren Zeiten keine Ablenkung bietet.
Denn dieser Fußball ist den Deutschen plötzlich sehr fremd. Wieder ein nationales Heiligtum, auf das das Land einst so stolz war und das nun eine tiefe Bedeutungskrise erlebt – wie der Verbrennungsmotor, die Autobahn oder die Samstagabendshow.
Die Suche nach der guten alten „Schland“-Zeit treibt die Überzeugungstäter in einen Glasbau am Dortmunder Hauptbahnhof. Hier stellt das Deutsche Fußballmuseum die Reliquien der Nationalmannschaft aus: den braunledrigen Stiefel vom „Boss“ und Siegtorschützen 54, Helmut Rahn, das Finaltrikot des „Bombers“ Gerd Müller von 74. Unter Mario Götzes Stollen klebt noch Rio-Rasen. Im Foyer warten rund 100 Fans auf den Anstoß gegen Japan. Einige sind extra vom Niederrhein hergekommen, weil ihre Stammkneipe nicht überträgt.
Hier im Ruhrgebiet, der Wiege der deutschen Fußballkultur, funkelt der WM-Pokal aus Brasilien in einer Vitrine – mehr Ambiente geht nicht. Wenn man hier nicht in WM-Stimmung kommt – wo dann? Und die, die hergekommen sind, wollen diese Stimmung wirklich um jeden Preis. Werktags, um 14 Uhr, bei neun Grad.
„Das ist schon skurril, wir waren eben noch beim Weihnachtsmarkt“, erzählt Thorsten, 51. „Sonst trägt man zur WM kurze Hosen.“ Er ist mit drei Freunden hier, normalerweise stehen sie in der Südkurve beim BVB. Und jetzt – trotzdem WM, wie immer? „Wir sind aus Freude am Fußball hier“, sagt Marc, 50. Er betont diese „Freude“ extra. Die Debatte um die „One Love“-Binde? „Doof, aber abgehakt.“ An Manuel Neuers Stelle hätte er sie getragen, sagt er.
WM-Stimmung: Von Ekstase keine Spur
Sie waren schon auf der Fanmeile beim „Sommermärchen“ 2006, sind im Wohnwagen bei der EM 2008 rumgereist. Trotzdem braucht es etwas, bis man wieder drin ist im Rudelgucken. Die Nationalhymne singt keiner mit, kaum Zwischenrufe in den ersten zehn Minuten. „Da ist er!“, brüllt der erste bei Rüdigers Kopfballchance in der 16. Minute. Ein anderer trommelt auf den Tisch. Im Krisenwinter 2022 sehnen sich einige das kollektive Erfolgserlebnis regelrecht herbei. In der 30. Minute sitzt Gündogans Elfmeter. Ein Mann steht auf und streckt beide Fäuste aus: „Deutschland, Deutschland!“ Es macht niemand mit; der Jubel verhallt schnell. Zur WM-Ekstase ist es noch ein weiter Weg.
Das gilt auch für die Fußballkneipe Tante Käthe am Berliner Mauerpark. Drei Tische waren hier nur besetzt am Montag, beim Spiel der Engländer gegen die Iraner. Dass überhaupt jemand gekommen ist zum Nachmittagsspiel, hat Wirt Lothar Hartl „positiv überrascht“. Zu den Vormittagsspielen in der Vorrunde macht er gar nicht erst auf. Viele andere Fußballkneipen verweigern sich komplett. Fast 200 Lokale bundesweit haben sich in der Initiative Boycott Qatar 2022 zusammengeschlossen. Die Astra-Stube in Berlin-Neukölln gehört dazu. In diesen Tagen läuft hier Chelsea gegen Real Madrid und AS Rom gegen VfL Wolfsburg – die Champions League der Frauen überbrückt den moralischen Bankrott des Herrenfußballs. Fußballfilme und Lesungen komplettieren das Programm, und manchmal macht Betreiber Stefan von Bargen auch einfach zu.
„Kein Bock auf Qatar“, steht dann im Programm. „Ich kann das nicht zeigen“, sagt er. „Meine Stammgäste hätten das nicht verstanden.“ Der Wirt zapft ein „Korruptions-Pils“, die extra für den WM-Boykott eingeführte Eigenmarke. 50 Cent von jedem großen Bier gehen an eine Selbsthilfeorganisation von Wanderarbeitern. Vielleicht, sinniert von Bargen, verschluckt sich das System Fifa ja an diesem absurden Turnier.
Deutschland und die WM: Eine schleichende Entfremdung
Der verbreitete Argwohn ist messbar. Fanforscher Harald Lange, Professor für Sportwissenschaft an der Universität Würzburg, hat mit 13.300 Fragebögen die WM-Lage im Land analysiert. Das Ergebnis: Die Stimmung ist unterirdisch. Mehr noch: „Wir haben in Deutschland die schlechteste WM-Stimmung aller Zeiten“, schreibt Lange in einem Gastbeitrag für „Watson“. Und das liegt gewiss nicht allein an der Menschenrechtslage in Katar, am arroganten, weltentrückten Gehabe von Fifa-Präsident Gianni Infantino, dem die nörgeligen Europäer ein Graus sind, oder der Tatsache, dass gerade Winter ist und sich das Spektakel sehr fremd anfühlt.
Es ist nicht allein der Bruch mit den Gewohnheiten bei dieser WM, der Fans und Fußball weiter entfremdet. Das Turnier ist nur ein neues Kapitel in der Geschichte einer schleichenden Entfremdung. Wenige Großclubs dominieren die Ligen, die Champions League überstrahlt alles, die Spielergehälter explodieren, die Bindung junger Fans an regionale Clubs nimmt ab. „Das Image der Fifa und des Veranstaltungsformats ‚Fußball-WM‘ ist so schlecht wie niemals zuvor“, schreibt Lange. Und nun? Die Rettung müsse „von außen erfolgen“.
Soll heißen: Erst wenn Sponsoren nervös werden, wenn Fans sich massenhaft abwenden, das Produkt Fußball also an Strahlkraft verliert und weniger lukrativ wird, kann etwas in Bewegung geraten. Möglich, dass dann aus Katar eine Katharsis wird – eine schmerzhafte, aber heilsame Stunde null des Fußballs.
Von Imre Grimm, Jan Sternberg, Maximilian König/RND