Geschwister-Scholl-Preis für Andrej Kurkow: Schreiben für den Frieden – landeszeitung.de

Herr Kurkow, Sie bekommen am Montag den Geschwister-Scholl-Preis verliehen. Was bedeutet Ihnen die Auszeichnung?

Sie ist sehr wichtig für mich. Ich weiß natürlich, dass diese Auszeichnung in der momentanen Zeit des Krieges nicht nur meiner Literatur gilt, sondern auch meinem politischen Engagement. Der Preis ist aber auch deshalb wichtig, weil ich so die Aufmerksamkeit der deutschen Leserinnen und Leser hoffentlich noch mehr auf die zeitgenössische ukrainische Literatur und die heutige Situation in der Ukraine lenken kann.

Wie hat sich Ihr Schreiben seit dem Krieg verändert?

Vor dem Krieg habe ich hauptsächlich Romane geschrieben. Seit dem 24. Februar kann ich das nicht mehr. Seitdem verfasse ich Essays und Artikel für die internationale Presse und schreibe Tagebuch. Zurzeit kann ich zur Literatur leider nicht zurückkommen.

Sind Sie momentan politischer Essayist, sind Sie Kriegsberichterstatter, oder wie würden Sie Ihre aktuelle Rolle nennen?

Jeder ukrainische Intellektuelle sucht momentan seine oder ihre Möglichkeit, der Ukraine zu helfen. Und ich kann nun einmal nur schreiben und reden. Ich versuche, in Reden, Artikeln, Vorträgen zu erklären, was die Leute in Europa, in Amerika nicht verstehen. Und es gibt vieles, was sie nicht verstehen und kennen. Viele Menschen wissen nichts von der ukrainischen Geschichte, der ukrainischen Kultur, der ukrainischen Literatur, vom historischen und aktuellen Verhältnis zwischen Russland und der Ukraine. Und deswegen ist es für sie auch schwierig, diesen Krieg zu verstehen, und zum Beispiel zu begreifen, warum die Ukraine die russischen Streitkräfte nicht fürchtet. Das zu erklären und zu vermitteln sehe ich als meine Aufgabe an. Wie ich diese Rolle genau nennen soll, weiß ich nicht. Wichtig ist, dass ich diese Aufgabe wahrnehme, das ist das, was ich machen kann.

Tagebücher können sehr persönlich über den Krieg berichten

Sie bekommen den Geschwister-Scholl-Preis für Ihr „Tagebuch einer Invasion“. Auch Serhij Zhadan, Oxana Matiychuk, Sergej Gerassimow, Julia Solska und andere Ukrainerinnen und Ukrainer beschreiben und verarbeiten in Tagebüchern das Kriegsgeschehen und seine Folgen. Welchen Vorteil hat diese Form?

Tagebücher geben die Möglichkeit, persönliche Gedanken und Gefühle darüber zu vermitteln, was täglich passiert. Das ist sehr wichtig, auch später für die Erinnerung an diese Zeit. Meine Lieblingsbücher waren immer Tagebücher, zum Beispiel die von Franz Kafka aus den Jahren 1919 und 1920 oder von Maxim Gorki oder Alexander Blok. Denn man versteht Geschichte viel besser aus subjektiven und persönlichen Tagebüchern als aus Lehrbüchern.

Ebenfalls in diesem Jahr ist Ihr Roman „Samson und Nadjeschda“ auf Deutsch erschienen, den Sie noch vor dem Krieg geschrieben haben. Er spielt 1919, kurz nach der Russischen Revolution. Wie kamen Sie zu dem Stoff?

Vor fünf Jahren, 2017, rief mich eine Leserin an, sie wolle mir ein Geschenk geben. Sie kam dann noch am selben Abend zu mir mit einer Kiste voll von Originalakten der WeTscheKa, also der bolschewistischen Geheimpolizei.

Was stand in diesen Akten?

Alle Fälle waren aus den Jahren 1919 bis 1921, alles spielte in Kiew und um Kiew herum. Ich las diese Akten und fand sie sehr interessant. Dazu kam, dass jüngere Menschen in der Ukraine heute nur noch wenig über die Zeit des Bürgerkriegs zwischen 1919 und 1921 wissen, als die Ukraine noch einmal versuchte, unabhängig von der Sowjetunion zu werden. Ich habe mich immer für Geschichte interessiert. So entschied ich mich, eine Reihe von Romanen über diese Jahre zu schreiben, als die Rote Armee zum zweiten Mal Kiew besetzt hat.

Aktueller Krimi beruht auf Akten des KGB

Wie kam denn die Frau an die Akten?

Ihr Vater war KGB-Offizier und hatte die Akten zu Hause. Er wollte eigentlich selbst etwas darüber schreiben, aber hat es letztlich nicht geschafft. Als er gestorben war, wollte die Frau mir diese Dokumente geben, weil sie dachte, sie könnten wichtig für mich sein. Und das waren sie, es war ein Glücksfall.

Warum haben Sie sich für die Form des Krimis entschieden?

Die Reihe wird eine Serie von Krimis, damit die Bücher einfacher zu lesen sind. Außerdem achten Krimileser mehr auf Details. Die Details des damaligen täglichen Lebens sind sehr wichtig, und sie sind vielen Menschen unbekannt.

Welche Parallelen lassen sich zwischen der Zeit, die Sie in Ihrem Krimi beschreiben, und der Gegenwart ziehen?

Es ist die gleiche Geschichte. Heute erleben wir einen neuen russischen Versuch, die Ukraine zu okkupieren und in die Russische Föderation zu integrieren. 1918 hat die Rote Armee unter General Murawjow Kiew von der gleichen nordöstlichen Seite angegriffen, wie es die russische Armee im Februar 2022 tat. Und am 10. Oktober wurden die gleichen Straßen mit Raketen bombardiert wie 1918 von General Murawjow. Das ist ganz deutlich eine Wiederholung der Geschichte. In beiden Fällen geht es um die Unabhängigkeit der Ukraine. 1918 hat übrigens Deutschland der Ukraine geholfen und ist für einige Monate in Kiew geblieben, um die Unabhängigkeit der Ukraine zu unterstützen.

Wie sehen Sie die Rolle Deutschlands heute?

Am Anfang des Krieges gab es ja gar keine Rolle Deutschlands. Olaf Scholz sagte damals, es wird keine Waffenlieferungen geben. Heute ist das etwas anders, mittlerweile liefert Deutschland Waffen an die Ukraine. Gott sei Dank gibt es diese Unterstützung. Dazu kommt viel humanitäre Hilfe für unser Land. Ich bin heute viel zufriedener mit Deutschland als noch vor einigen Monaten.

„Die ukrainische Gesellschaft ist emotional radikalisiert“

Was kann Deutschland außer Waffenlieferungen noch leisten?

Deutschland kann auch später eine positive Rolle spielen, wenn es um die Frage geht, ob die Ukraine als Mitglied der EU akzeptiert wird. Wir werden dann viel politische Hilfe von Deutschland brauchen.

Wie hat sich die ukrainische Gesellschaft im Krieg verändert?

Die Gesellschaft ist konsolidierter als früher. Aber es gibt auch negative Prozesse, wir sehen viel Hass, die Gesellschaft ist emotional radikalisiert. Wir haben Leute in der Ukraine, die die Feinde innerhalb der Gesellschaft, nicht außerhalb suchen. Ich spreche hier von den Intellektuellen meines Landes.

Wie äußert sich das?

Es gibt Fragen, die die Intellektuellen spalten – etwa die Frage, ob man die russische Kultur canceln soll. Oder die Frage, ob man es sich erlauben kann, sich mit russischen Oppositionsschriftstellern bei Diskussionsveranstaltungen auf eine Bühne zu setzen oder nicht. Auch über die russische Sprache wird diskutiert. Obwohl 40 Prozent der Ukrainer und etwa die Hälfte der ukrainischen Soldaten an der Front Russisch sprechen, gilt Russisch als die Sprache des Feindes. Es herrscht ein Kampf gegen alles Russische und auch gegen die russische Sprache.

Es gibt also Kolleginnen und Kollegen von Ihnen, die sich beispielsweise nicht mit einem oppositionellen russischen Schriftsteller wie Viktor Jerofejew auf ein Podium setzen?

Niemand wird sich momentan auf ein Podium mit ihm setzen.

„Die Mehrheit der Schriftsteller in Russland steht hinter Putin“

Sie auch nicht?

Ich auch nicht. Ich habe mit Michail Schischkin, der ja ebenfalls Putin und den Krieg gegen die Ukraine kritisiert, auf einem Podium gesessen und habe danach meine Portion Hass abbekommen. Aber mittlerweile denke ich auch, dass solche Gespräche nicht wichtig sind, dass sie uns nicht weiterbringen. Ich weiß, was Jerofejew sagt, ich weiß, was Schischkin sagt. Aber sie sind nicht die russische Gesellschaft. Die russische Gesellschaft unterstützt Putin. Und auch die Mehrheit der Schriftsteller in Russland steht hinter Putin. Am 3. März haben mehrere Hundert Schriftsteller, auch bedeutende, in einem offenen Brief in der „Literaturnaja Gaseta“ Putin und seinen Krieg unterstützt. Schischkin, Jerofejew, Sorokin spielen in dieser Situation keine Rolle. Es ist wunderbar, dass es diese Leute gibt, aber sie vertreten nicht die russische Gesellschaft.

Können Sie eine Prognose wagen, wie es mit dem Krieg weitergehen wird?

Das ist schwierig vorherzusehen. Ich denke, wenn der Krieg bis zum kommenden Sommer nicht beendet ist, geht er noch lange weiter, aber wahrscheinlich weniger laut. Russland wird vielleicht versuchen, die dann bestehenden Grenzen zu fixieren. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass die Ukraine das akzeptieren würde. Denn jede Pause wird von Putin benutzt, um einen neuen Angriff vorzubereiten.

Aber wie könnte der Krieg vor dem Sommer, oder wie kann er überhaupt enden?

Man weiß nicht, wie lange Putin leben wird. Nach seinem Tod wird es einen Kampf im Kreml zwischen verschiedenen Gruppen geben, die an die Macht kommen wollen. Abhängig davon wird sich auch die Zukunft des Krieges entscheiden. Mit dem nächsten Präsidenten kann man dann vielleicht über ein Ende des Krieges sprechen. Mit Putin aber wird von ukrainischer Seite niemand sprechen, weil er schon so oft gelogen hat, dass niemand mehr Vertrauen in ihn hat.

Kurkow analysiert den Krieg in der Ukraine

Andrej Kurkow ist vor allem durch seinen Roman „Picknick auf dem Eis“ bekannt. Seit dem Beginn des Krieges in seiner Heimat analysiert und erklärt Kurkow, der mehrere Sprachen spricht, in Deutschland und Europa die Lage in der Ukraine. Für sein „Tagebuch einer Invasion“ (Haymon, 352 Seiten, 19,90 Euro) erhält der 61-Jährige am Montag in München den Geschwister-Scholl-Preis. Ebenfalls in diesem Jahr erschien der historische Krimi „Samson und Nadjeschda“ (Diogenes, 368 Seiten, 24 Euro), in dem Parallelen zur Gegenwart zu erkennen sind.

Von Kristian Teetz/RND