London. Ellie McNicol ist noch nicht lange in der Pflege tätig, hat aber bereits genug gesehen, um zu wissen, dass sich die Dinge ändern müssen. „Wegen des Personalmangels passieren viele unnötige Fehler“, sagte der 22-Jährige, die an der University of Bristol studiert, gegenüber Journalisten. „Wenn es mir nicht so wichtig wäre, Menschen zu helfen, würde ich in Erwägung ziehen aufzuhören.“ Wie McNicol wollen viele Pflegerinnen und Pfleger auf die Zustände in britischen Krankenhäusern aufmerksam machen und fordern überdies einen höheren Lohn ein. Sie wollen deshalb zum ersten Mal in der Geschichte Großbritanniens in den Streik treten. „Die hart arbeitenden Helden des Krankenhauses haben beschlossen, dass sie für ihre Leistungen mehr wollen als nur Applaus“, titelte die Zeitung „Metro“ am Donnerstag.
„Aus Wut werden nun Taten. Unsere Mitglieder haben genug“, betonte Pat Cullen, Geschäftsführerin der zuständigen Gewerkschaft „Royal College of Nursing“ (RCN) mit rund 300.000 Mitgliedern diese Woche. Mit den Arbeitsniederlegungen in vielen Krankenhäusern des Landes wird Ende des Jahres gerechnet. Die Angestellten fordern ein Gehaltsplus von fünf Prozent oberhalb der Inflationsrate, die derzeit bei zwölf Prozent liegt. Das Einstiegsgehalt für eine Krankenschwester beträgt rund 30.000 Euro pro Jahr. Es sei insbesondere die schlechte Bezahlung, die die Menschen veranlasse, den NHS zu verlassen, betont die RCN. Im vergangenen Jahr kehrten nach Angaben der Institution für Pflege- und Hebammenberufe „Nursing and Midwifery Council“ 25.000 Pflegekräfte dem NHS den Rücken.
Durchschnittliche Wartezeit auf Krankenwagen: 41 Minuten
Das System sei seit Jahren unterfinanziert, erklären Experten. Hinzu kommen strukturelle Probleme im Management sowie die Auswirkungen des Brexit und der Pandemie. Beides habe dazu geführt hat, dass viele Europäer das Land verlassen haben und nicht zurückkamen – darunter auch viele Pfleger. Die Auswirkungen für Patientinnen und Patienten sind fatal. Die Zahl der Menschen, die allein in England auf eine Behandlung warten, hat im August mit sieben Millionen ein Rekordhoch erreicht, auch weil der NHS darum kämpft, den pandemiebedingten Versorgungsrückstand aufzuarbeiten. Bei Notfällen kommt der NHS an den die Grenzen der Belastbarkeit – und über sie hinaus. Statistiken zeigen, dass die durchschnittliche Wartezeit auf einen Krankenwagen im Fall eines Notrufes der „Kategorie zwei“ wie Verbrennungen, Epilepsie oder bei einem Schlaganfall 41 Minuten und 18 Sekunden beträgt. Zum Vergleich: 2018 waren es noch im Schnitt noch rund 20 Minuten. In den Notunfallambulanzen geht das Warten weiter. Rund ein Drittel der Patienten mussten zuletzt über vier Stunden ausharren, einige sogar bis zu zwölf Stunden.
Eine Hauptursache dafür ist der Mangel an Betten für Patienten in den Krankenhäusern. Laut einer Analyse der Denkfabrik King‘s Fund sank die Zahl in den vergangenen zehn Jahren um elf Prozent auf rund 130.000. In Europa hat laut Experten zufolge nur Schweden weniger Betten pro Kopf. Zusätzlich erschwert wird die Lage dadurch, dass ältere Patientinnen und Patienten nicht entlassen werden können, weil nicht genug Plätze in Pflegeeinrichtungen vorhanden sind.
NHS steht oben auf Sunkas Agenda
Angesichts der enormen Herausforderungen steht der NHS auch für den neu gewählten Premierminister Rishi Sunak ganz weit oben auf der Agenda. Auf die versprochenen umgerechnet 570 Millionen Euro, die investiert werden sollten, um Entlassung zu beschleunigen und Krankenhausbetten freizugeben, wie es vonseiten der konservativen Regierung hieß, warten viele Krankenhäuser auch bedingt durch das anhaltende Chaos in Westminster nach wie vor vergeblich.
Der Labour-Abgeordnete Karl Turner fragte Sunak diese Woche im Parlament, ob er bereit sei, stundenlang zu warten, wenn eines seiner Familienmitglieder krank sei oder ob er sie stattdessen lieber privat behandeln ließe. Sunak versicherte daraufhin, dass jeder die Hilfe erhalten solle, die er benötigt. Gesundheitsminister Steve Barclay sagte am Mittwoch, er bedauere die Entscheidung der Pfleger zum Streik. Die Priorität der Regierung sei nun, die Folgen für die Patienten abzufedern.
Von Susanne Ebner/RND