Lyman. Die Hinterlassenschaften zeugen davon, wie überstürzt die russischen Soldaten vor der ukrainischen Gegenoffensive fliehen mussten. In dem Chaos im Hinterhof des Wohnblocks an der Hauptstraße im ostukrainischen Dorf Shandryholove liegen noch Uniformjacken und Lebensmittel, auf der Haustreppe steht eine olivgrüne Lunchbox. Neben dem Krater, den eine Granate in den Asphalt gerissen hat, liegt ein Nardi-Spiel, ähnlich dem Backgammon, russische Soldaten haben ihre Spitznamen und Heimatorte auf das Holz geschrieben. Aus dem zerstörten Wohnblock dringt Leichengeruch, bislang kann niemand das Gebäude betreten, weil es noch nicht auf Sprengfallen untersucht worden ist.
In Shandryholove begann die ukrainische Gegenoffensive zur Befreiung der strategisch wichtigen Kleinstadt Lyman – eine der bislang letzten Städte an dem Frontabschnitt im Osten, aus denen die russischen Truppen vertrieben wurden. Lyman liegt in der Region Donezk, die gemeinsam mit Luhansk den Donbass ausmacht. Donezk und Luhansk gehören zu den insgesamt vier Regionen in der Ukraine, die der russische Präsident Wladimir Putin am 30. September annektiert hat – obwohl seine Invasionstruppen sie gar nicht vollständig kontrollieren oder sich sogar aus Teilen davon geschlagen zurückziehen mussten. Am selben Tag verkündeten die ukrainischen Streitkräfte damals die Befreiung Lymans.
Front 20 Kilometer von Lyman entfernt
Von Lyman aus ist die Front nach Armeeangaben rund 20 Kilometer Luftlinie entfernt, die ukrainischen Artilleriestellungen liegen nur drei bis fünf Kilometer entfernt. Permanent ist das Grollen der Geschütze zu hören, das abgehende Artilleriefeuer der Ukrainer einerseits, die Einschläge der russischen Granaten andererseits. Das Wummern ist nicht sehr laut, aber auch nicht leise genug, um es zu ignorieren, es ist omnipräsent. Lyman liegt außerhalb der Reichweite russischer Artillerie, aber innerhalb der der russischen Raketenwerfer.
Für die Menschen hier ist die Geräuschkulisse eine permanente Erinnerung daran, dass Krieg herrscht. Die Folgen dieses Krieges sind in der Region allgegenwärtig, die Zerstörung zeigt sich schon auf dem Weg in den Donbass. Eine Zeitlang verlief die Front kurz hinter der Stadt Isjum in der Region Charkiw, das Dorf Kamianka lag damals zwischen den ukrainischen und den russischen Truppen. Kein Haus ist mehr bewohnbar hier, keine Menschenseele ist zu sehen. Das einzige Lebenszeichen ist eine graue Katze, die durch die Trümmer schleicht.
Checkpoints der ukrainischen Armee
Weil Abschnitte der Straße zerstört sind, müssen weite Umwege gefahren werden. Alle paar Kilometer sind Checkpoints der ukrainischen Armee aufgebaut, an einem davon haben die Soldaten mit einer erbeuteten russischen Uniform eine Art Vogelscheuche gebastelt. Hochspannungsmasten, von denen gerissene Leitungen hängen, stehen neben der Straße. Immer wieder säumen Wracks von ausgebrannten Panzern und umgestürzten Autos den Weg. Flatternde rot-weiße Bänder warnen vor Minenfeldern.
Am Fluss Siwerskyj Donez haben ukrainische Streitkräfte die Brücken gesprengt, als russische Truppen nach Kriegsbeginn am 24. Februar vorrückten. Auf den Überresten der kollabierten Eisenbahnbrücke rosten Waggons vor sich hin. Flussabwärts hat die Armee eine Pontonbrücke errichtet, eine provisierte Schwimmbrücke, um Autos die Überquerung zu ermöglichen, Soldaten regeln den Verkehr. In der Nähe bringt eine Fähre schwere Militärfahrzeuge über den Fluss.
Ausgebrannte Kampffahrzeuge, Wracks zerstörter Kampfpanzer
Am Stadtrand von Lyman haben die ukrainischen Truppen auf dem Gelände einer zerstörten Tierfutterfabrik Trophäen aus ihrer Offensive gegen die Russen versammelt. Auf dem Panzerfriedhof stehen nicht nur etliche ausgebrannte Kampffahrzeuge, dort liegen sogar Überreste eines Kampfbombers vom Typ Suchoi Su-34. Nur mit Voranmeldung und Militäreskorte dürfen Journalisten Lyman und die Orte in der Umgebung besuchen, näher an die Front lassen die ukrainischen Streitkräfte Reporter in dieser Gegend nicht.
Drei Tage haben die ukrainischen Truppen Ende September benötigt, um die zwölf Kilometer von Shandzyholove bis Lyman freizukämpfen. An einer Brücke hinter Shandzyholove steht das Wrack eines russischen T-72-Kampfpanzers. Der abgesprengte Turm hat sich neben der Brücke in die Erde eingegraben, das Kanonenrohr reckt schräg daraus hervor. „Die Russen haben Dutzende Leichen zurückgelassen“, sagt der ukrainische Presseoffizier Oleksii Kashporovskyi. „Sie hatten es so eilig, dass sie versucht haben, in gekaperten Autos zu fliehen, weil sie dachten, dass sie nicht erkannt würden.“
Der Fluchtversuch endete im Tod. Die ausgebrannten Wracks dieser Autos liegen wenige Kilometer weiter auf der Straße in einem Waldabschnitt. Ukrainische Spezialkräfte hätten den Russen aufgelauert und sie mit Panzerfäusten gestoppt, sagt Kashporovskyi. Rund 20 feindliche Soldaten seien getötet worden. Die Explosionen haben deren persönlichen Gegenstände in die Umgebung katapultiert, auf der Straße sind Uniformteile und Munitionsmagazine, Handschuhe und Stiefel, Medikamente und Zahnpastatuben verstreut. In einem der zerstörten Fahrzeuge liegt noch eine scharfe Handgranate.
In Shandryholove, dem Ausgangspunkt der Lyman-Offensive, zeigt sich das in der Gegend übliche Bild der Verwüstung: Das Verwaltungsgebäude liegt in Trümmern, das Kulturzentrum ebenso. Die Schule steht noch, hat aber keine Fenster mehr, die Wände sind mit Einschusslöchern übersät. Nur einer der beiden Zwiebeltürme der orthodoxen Kirche hat die Gefechte überstanden. Kaum ein Haus ist mehr bewohnbar. Strom gibt es noch nicht wieder.
Auch das Haus von Mykolai Mydzolyn (62) hat weder Fenster noch ein Dach. Gemeinsam mit seinem 29 Jahre alten Sohn wohnt Mydzolyn in einem Schuppen, den er notdürftig hergerichtet hat. In dem kleinen Garten liegen geerntete Kürbisse neben Feuerholz, das Mydzolyn für den Winter sammelt. Er sagt, Shandryholove sei nicht nur ständig beschossen worden, sondern auch so schwer umkämpft gewesen, dass sein getöteter Nachbar 39 Tage lang nicht aus den Trümmern seines Hauses geborgen habe werden können.
Kommen die Einwohner eines Tages zurück?
700 Einwohner habe das Dorf früher gehabt, 120 seien es jetzt noch, sagt Mydzolyn. Er sei sich nicht sicher, wie viele seiner Nachbarn wiederkommen würden. Einige davon seien mit den abrückenden Russen vor der ukrainischen Gegenoffensive geflohen. „Jetzt haben sie Angst, zurückzukehren“ – weil sie als Kollaborateure gelten würden.
Wie auf der von Putin bereits 2014 annektierten Halbinsel Krim leben auch im Donbass viele Menschen mit russischen Wurzeln und russischer Muttersprache. Traditionell gab es im Donbass eher Sympathien für Russland als im Westen der Ukraine. Prorussische Separatisten, die von Moskau unterstützt wurden, riefen 2014 Donezk und Luhansk als unabhängige „Volksrepubliken“ aus. Danach brachen Gefechte mit der ukrainischen Armee aus. Auch nach Verkündung einer Waffenruhe im Jahr 2015 hielt die Gewalt an. Der Konflikt kostete nach UN-Schätzungen schon vor Beginn des aktuellen Krieges mehr als 14.000 Menschen das Leben. Den Separatisten gelang es nie, Donezk und Luhansk ganz unter ihre Kontrolle zu bringen – auch Lyman blieb immer unter ukrainischer Verwaltung.
Im Februar erkannte Putin die beiden selbsternannten Volksrepubliken im Donbass offiziell an. Wenige Tage später erteilte er den Befehl zum Einmarsch in die Ukraine. Nach dem Scheitern der Offensive gegen die Hauptstadt Kiew erklärte Putin die vollständige „Befreiung“ des Donbass zu einem Kriegsziel. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj denkt allerdings gar nicht daran, die Region aufzugeben, im Gegenteil: Er will auch jene Gegenden zurückerobern, die die Separatisten 2014 unter ihre Kontrolle brachten.
Die überwältigende Mehrheit der Ukrainer hat für Russland seit dem Einmarsch nur Verachtung und Wut übrig. Gut dokumentierte Gräueltaten der Besatzer tun dafür ihr Übriges. In Lyman und den umliegenden Dörfern ist die Ablehnung gegenüber dem Nachbarn im Osten aber spürbar schwächer ausgeprägt.
„Ich habe russische und ukrainische Wurzeln“
Auch Mydzolyn hält sich mit Kritik an Russland zurück – selbst wenn die Soldaten seinen roten Vaz 2101, ein Auto aus Sowjetzeiten, beschlagnahmt und mit dem „Z“-Symbol der Invasoren versehen haben. Sie hätten versprochen, den Wagen zurückzubringen, nach dem Abzug der Russen habe er ihn selbst im Dorf gefunden, er macht daraus keine große Sache. Mydzolyn sagt, er glaube zwar, unter russischer Führung wären Donbass-Bewohner Bürger zweiter Klasse. Für ihn sei es dennoch nicht leicht, die Frage zu beantworten, wer für diesen Krieg verantwortlich sei. „Ich habe russische und ukrainische Wurzeln“, erklärt er. „Jetzt bekämpfen sich Russen und Ukrainer. Es fällt mir schwer, dazu etwas zu sagen.“
Im Nachbardorf Drobyshyve ist der Tenor ähnlich. Yana Popova wartet in einer Menschenmenge vor dem Verwaltungsgebäude, wo die Rente für die Monate der Besatzung nachbezahlt wird, außerdem steht jedem Bewohner eine einmalige Hilfsleistung von 1200 Hrywnja (knapp 33 Euro) zu. Die 49-Jährige sagt, sie habe noch genau eine Hrywnja im Portemonnaie. „Ich kann nicht sagen, dass uns die Russen wehgetan haben“, sagt sie. „Sie haben viel versprochen, aber nichts geliefert, das ja.“ Aber Kriegsverbrechen? Die habe es hier nicht gegeben. Auch kein anderer Gesprächspartner in der Gegend berichtet von russischen Gräueltaten, die aus etlichen anderen Gebieten der Ukraine gemeldet wurden.
„Beide Regierungen sind schuld“, schimpft die 64-jährige Tetiana, die ihren Nachnamen nicht nennen möchte, bei der Frage nach der Verantwortung für den Krieg. Eine andere Frau aus der Menge ruft dazwischen: „Es sollte Verhandlungen geben.“ Die meisten Ukrainer sehen das vor dem Hintergrund der jüngsten Erfolge auf dem Schlachtfeld anders: Sie sprechen sich dafür aus, diesen Krieg zu Ende zu führen – bis die Russen vertrieben sind.
In Lyman sind die allermeisten Geschäfte geschlossen, weite Teile der Stadt sind zerstört. Svitlana (38) wartet vor einem Verwaltungsgebäude mit ihrem kleinen Sohn auf humanitäre Hilfe, sie hofft auf Medizin für das Kind. „Wir haben ganze Wochen im Keller verbracht“, sagt sie. „Jetzt brauchen wir eigentlich einen Psychiater.“ Auf die Frage, wer Schuld für den Krieg trägt, antwortet Svitlana: „Ich weiß es nicht.“ Sie höre nur ständig das Artilleriefeuer und habe Angst. „Das Wichtigste ist, dass wir wieder ein normales Leben führen können.“
Von Can Merey/RND