Italiens neue Migrationspolitik: Radikale Polemik, flexibler Kurs – landeszeitung.de

Rom. Die Lage auf der Humanity One war unhaltbar geworden: Während über einer Woche mussten insgesamt 179 gerettete Bootsflüchtlinge, darunter mehr als hundert unbegleitete Minderjährige, auf dem deutschen NGO-Schiff ausharren, bevor der Crew von den italienischen Behörden in der Nacht auf Sonntag die Erlaubnis erteilt wurde, den Hafen von Catania anzulaufen und den größten Teil der Migranten an Land zu bringen, in erster Linie Frauen, Kinder und Kranke.

Am Sonntag Nachmittag befanden sich laut italienischen Medienberichten noch 35 männliche Flüchtlinge an Bord, denen die Regierung weiterhin keine Erlaubnis erteilte, das Schiff zu verlassen. Ein weiteres NGO-Rettungsschiff mit über 500 Bootsflüchtlingen an Bord – die unter norwegischer Flagge fahrende Geo Barents – wurde am Nachmittag ebenfalls in Catania erwartet.

Der Entscheid von Innenminister Matteo Piantedosi, den ausländischen NGO-Schiffen das Einlaufen in italienische Häfen zu verwehren, war bereits einen Tag nach der Vereidigung der neuen, ultrarechten Regierung von Giorgia Meloni gefallen – und hatte Erinnerungen an die „Politik der geschlossenen Häfen“ des damaligen Innenministers Matteo Salvini in den Jahren 2018 und 2019 wachgerufen.

Was dabei meist vergessen wird: Seit dem Amtsantritt der Regierung Meloni vor zwei Wochen hat Italien bereits über 9000 Migranten aufgenommen, die es mit ihren Schiffen selber nach Italien geschafft haben oder die von der italienischen Küstenwache gerettet worden sind. Also etwa durchschnittlich rund 650 pro Tag. So gesehen kann von geschlossenen italienischen Häfen keine Rede sein: Die sogenannte Hafenschließung betrifft nur private, ausländische Rettungsschiffe.

„Bezüglich unserer humanitären Verpflichtungen werden wir aber keine Abstriche machen“, betonte Piantedosi am Sonntag. Italien werde auch von den NGO-Schiffen diejenigen Personen aufnehmen, für die ein Verbleib an Deck aus gesundheitlichen Gründen nicht zumutbar wäre. „Wir werden aber nicht von unserer Haltung abrücken, dass die Flüchtlinge von dem Staat aufgenommen werden müssen, unter dessen Flagge das Schiff fährt, von dem sie gerettet wurden“, betonte Piantedosi.

Über 80.000 Bootsflüchtlingen in diesem Jahr in Italien gelandet

Im Fall der Humanity One also von Deutschland, im Fall der Geo Barents von Norwegen. Bisher haben sich aber sowohl Berlin als auch Oslo diesbezüglich weitgehend taub gestellt – obwohl es sich bei den von den NGOs geretteten Personen nur um einen kleinen Teil der ankommenden Migranten handelt: Von den über 80.000 Bootsflüchtlingen, die in diesem Jahr in Italien gelandet sind, kamen nur 16 Prozent auf Schiffen der privaten Retter an. Die übrigen 84 Prozent hat Italien ohne Aufhebens aufgenommen.

Es ist auch unzutreffend, wenn nun von einer „Rückkehr“ zur Politik der geschlossenen Häfen die Rede ist: Auch unter Mario Draghi mussten die privaten, ausländischen Seenotretter mitunter tage- und in einzelnen Fällen sogar wochenlang auf die Zuweisung eines Hafens warten. Draghi hatte schon Anfang Juli die Kapazität bei der Aufnahme von Migranten im eigenen Land als erreicht angesehen: „Auch wir haben Limits, und jetzt sind wir da angekommen“, erklärte er – und zu diesem Zeitpunkt waren seit Jahresbeginn erst knapp 30.000 Flüchtlinge in Italien angekommen.

NGO-Schiffe als Piratenschiffe bezeichnet

Der Unterschied zwischen Draghi und seiner Nachfolgerin Meloni besteht hauptsächlich darin, dass die neue Regierungschefin die Flüchtlingsproblematik propagandistisch auszuschlachten versucht und beispielsweise die NGO-Schiffe als „Piratenschiffe“ bezeichnet. Das ist angesichts des Umstands, dass die privaten Hilfsorganisationen jedes Jahr Tausende von Menschen vor dem Ertrinken retten, widerwärtig und zynisch.

Draghi hätte sich niemals auf diese Weise über die privaten Retter geäußert. Der Streit um die NGO-Schiffe dreht sich letztlich um zwei sich widersprechende Bestimmungen des See- und Asylrechts. Die Seenotretter verweisen auf die Bestimmung, wonach Schiffbrüchige grundsätzlich in dem am nächsten liegenden Hafen an Land gebracht werden müssen – und das ist zwischen der nordafrikanischen Küste und Italien meist Lampedusa oder Sizilien.

Die italienische Regierung wiederum beruft sich auf das Uno-Seerechtsabkommen und den Dublin-Vertrag: Ersteres besagt, dass ein Schiff als erweitertes Territorium des Staates gilt, unter dessen Flagge es fährt – und laut Dublin-Vertrag ist dasjenige Land für die Aufnahme zuständig, wo ein Asylsuchender erstmals europäisches Territorium betritt. Bei den NGO-Schiffen also der Flaggenstaat. Welche der beiden Interpretationen Vorrang hat, ist umstritten.

Und deshalb hat Italiens Außenminister Antonio Tajani am Wochenende gefordert, dass sich Brüssel koordiniert um eine solidarische Lösung kümmere. Diese Forderung stellen freilich alle italienischen Regierungen, ob linke oder rechte, seit Jahren vergeblich. Dabei ließe sich der Streit um die NGO-Schiffe auf einfache Weise beilegen.

Zum Beispiel mit einem Telegramm aus Berlin und Oslo nach Rom mit folgendem Inhalt: „Sehr geehrte Ministerpräsidentin Meloni, wir anerkennen, dass Italien jedes Jahr Zehntausende von Bootsflüchtlingen bei sich aufnimmt. Es erscheint uns deshalb als selbstverständlich, dass wir die vergleichsweise geringe Anzahl Migranten, die von unter unserer Flagge fahrenden Schiffen in internationalen Gewässern gerettet und bei Ihnen an Land gebracht werden, anschließend bei uns aufnehmen werden.“ Kein deutsches und kein norwegisches NGO-Schiff müsste in Zukunft auch nur eine Minute auf die Zuweisung eines italienischen Hafens warten.

Von Dominik Straub/RND