Kiew: Eine Stadt trotzt der Finsternis – landeszeitung.de

Die japanische Nudelsuppe wärmt den Bauch. Die kleine Portion in der Asia-Kette China Ma unweit des Kiewer Pivdennyi-Bahnhofs hat den Appetit an diesem Abend aber eher angeregt, als den Hunger zu stillen. Wie in Kiew üblich, findet sich keine Speisekarte am Tisch. Ein Aufkleber mit einem QR‑Code bahnt den Weg zu den Hauptgerichten im Menü. Kaum ist das Smartphone in der Hand, wird es plötzlich dunkel. Dutzende Displays spenden bläuliches Licht. Wer eine App zum Lesen von QR‑Codes öffnen will, braucht Geduld. Denn mit dem Strom verschwindet auch das schnelle Internet. Mitarbeiter in Kochhüten schneiden auf einer Theke Sushi-Rollen zurecht. Die Küche bleibt jetzt kalt.

Ukrainerinnen und Ukrainer sind es gewohnt, in Restaurants und Geschäften digital zu zahlen. Jetzt liegen ihre Karten so nutzlos in den Geldbeuteln wie eine leere Schachtel Kaudragees. Restaurantbesucher kramen im Dunkeln nach Geldscheinen.

Gäste stehen vor dem China Ma auf dem unbeleuchteten Gehsteig. Draußen ist nicht nur die Nacht finster, sondern der ganze Innenstadtbezirk. Uber und andere Onlinefahrdienste haben in Kiew schon vor Jahren Taxis verdrängt. Ohne Internet bleibt vielen nur der Gang zu Fuß. Vielleicht findet sich auf dem Weg etwas Internet, das es erlaubt, einen Fahrer zu bestellen. Leuchtende Displays verbreiten sich wie ein Schwarm Glühwürmchen in alle Richtungen.

Stromausfälle und -abschaltungen in Kiew

Nacht und Novembernebel liegen wie Watte über den Straßen. Den Weg zu finden fällt ohne Straßen­beleuchtung schwer. Einige Passanten tragen Stirnlampen. Häuserblocks mit bis zu zwanzig Stockwerken ragen wie finstere Stalagmiten in die Höhe. Es bleibt der Vorstellung überlassen, wie Bewohnerinnen und Bewohner gerade mit Taschenlampen in den Treppenhäusern Stufe um Stufe in die Höhe steigen oder im schlimmsten Fall im Lift stecken. Fotos von Überlebenspaketen mit Wasserflaschen, Keksen und Riegeln in Aufzügen machen in Kiew die Runde. Aufmerksame Nachbarn haben sie dort für ihre Hausgemeinschaft deponiert.

Der Himmel stürzte am 10. Oktober über Kiew ein. Russische Raketen vom Typ Kalibr trafen mitten im Morgen­verkehr um 8 Uhr die Innenstadt. Sieben Menschen starben, 49 wurden verletzt. Die Geschosse zielten auf Relaisstationen, Kraftwerke und Versorgungsunternehmen in der Hauptstadt. Raketen schlugen am 10. Oktober in Kraftwerken in der ganzen Ukraine ein. Als die Angriffe drei Stunden später abebbten, hatten sie nach Angaben der Regierung in Kiew 30 Prozent der für die Stromerzeugung notwendigen Einrichtungen beschädigt.

Eine zweite Welle von Angriffen am 17. Und 18. Oktober richtete nochmal so viel Schaden an wie die ersten Attacken. Ein dritter Schlag gegen Kraftwerke, Leitungen und Umschaltstationen folgte am 31. Oktober. Mit Strom betriebene Wasserpumpen fielen in ganz Kiew aus. Fast alle Leitungen blieben trocken.

40 Prozent der Energieinfrastruktur beschädigt

Behörden und Energieversorger begannen bereits nach dem 10. Oktober mit der Reparatur von Leitungen und Kraftwerken. Aber erneute Angriffe zerstörten wieder, was Ingenieure in der Zwischenzeit zusammen­flicken konnten. Inzwischen sind laut Angaben der Regierung 40 Prozent der Energieinfrastruktur der Ukraine beschädigt. Viereinhalb Millionen Menschen sind ohne Strom. Fast eine halbe Million sollen es in Kiew sein.

Die Behörden schalten in Kiew jedem Haushalt vier Stunden lang in einem Wechselmodus zwischen den Distrikten den Strom ab. Der Spitzenverbrauch soll sinken, indem nicht alle gleichzeitig das Licht einschalten oder im Internet surfen. Der Strom bleibt auch nach dem Ende der geplanten Abschaltungen immer länger weg. Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko schließt einen kompletten Ausfall in den kommenden Tagen und Wochen nicht mehr aus. Die Kiewer sollten für den Fall Vorräte anlegen und sich überlegen, ob sie die Stadt verlassen können. Der Leiter des Zivilschutzes, Roman Tkachuk, sprach gegenüber der „New York Times“ sogar von der Notwendigkeit, die Dreimillionenstadt bei einem Blackout zu evakuieren. Wohin er die Einwohnerinnen und Einwohner Kiews bringen will, verrät er nicht.

Ukraine setzt auf Wärmeräume

Ohne Strom wird in Kiew auch das Fernwärmenetz ausfallen. Der November zeigt sich noch von seiner milden Seite. Unversorgte Heizrohre drohen aber bei Minustemperaturen zu platzen. Das Fernwärmenetz Kiews könnte irreparabel unter der gefrorenen Erde in unzählige Stücke zerbrechen. Hochhäuser aus Stahl und Beton und die oft schlecht isolierten Wohnhäuser aus Backstein würden auskühlen, bis sie Gefrierschränken gleichen. Klitschko plant deshalb die Einrichtung von 1000 öffentlichen Wärmeräumen. Sie sollen mit Generatoren ausgestattet werden.

Die 28‑jährige Physiotherapeutin Viktoriia Chala macht sich in beneidenswert gerader Haltung bei einem Latte Macchiato in einer Filiale von Bucks Coffee Roasters im Kiewer Szeneviertel Podil Gedanken über Plan B und Plan C. Sie würde zunächst Klitschkos Rat folgen und mit ihrem Ehemann Kiew verlassen, erzählt sie. „Meine Schwiegereltern wohnen auf dem Land. Sie haben noch einen alten Ofen, der mit Holz geheizt wird“, sagt Chala. Für ein paar Tage oder Wochen könnte das eine Lösung sein, meint sie. Mit Holzhacken für den Ofen können ihr Mann und sie aber kein Geld verdienen, um Essen zu kaufen. „Für unsere Jobs brauchen wir Internet“, sagt Chala. Und Internet gibt es nur, wenn Strom fließt.

Plan C ist für Chala die Flucht ins Ausland. 90 Prozent ihrer Kunden seien ohnehin nach Polen, Deutschland oder Israel geflüchtet. Sie bringt ihnen online bei, wie sie ihre Muskeln entspannen oder durch Bewegungs­abläufe Schmerzen bekämpfen können.

Die Physiotherapeutin verbringt seit dem 10. Oktober viel Zeit mit der Suche nach Netzempfang in Kiew. Ihre Kurse so zu legen, dass sie nicht in die geplanten Abschaltungen für ihren Wohnbezirk fallen, sei sinnlos. „Der Strom fällt häufig auch so aus“, sagt die 28‑Jährige. Chala zeichnet inzwischen ihre Instruktionen auf und versucht, die Videos zu verschicken, wenn der Unterricht nicht möglich ist. Das WLAN in Bucks Coffee Roasters sei verlässlicher als das mobile Netz ihres Handys. Sie käme deshalb oft hierher. Ihre Klienten in Warschau oder Berlin müssen sich gedulden, bis die Datenmenge hochgeladen ist. Aber noch hat Chara zumindest Arbeit.

Wirtschaft leidet unter Krieg

Die wirtschaftlichen Aussichten für die Ukrainerinnen und Ukrainer sind düster. Und mit jedem Tag ohne stabile Stromversorgung sieht es schlechter aus für das Land. Der Direktor der Denkfabrik Centre for Economic Strategy (CES), Hlib Vyshlinsky, sitzt in einem alten Bankgebäude. Seine Mitarbeiter tippen am späten Nachmittag ihre Berichte in ihre Rechner. Im Keller der Bank fand sich ein Generator aus den 90er‑Jahren. Kurz nach der Unabhängigkeit der Ukraine von der Sowjetunion 1991 waren Stromausfälle keine Seltenheit. „Wir haben Glück“, sagt der Direktor.

Weiten Teilen der ukrainischen Wirtschaft wird dagegen gerade der Stecker gezogen. In Fabriken arbeiteten Mitarbeitende nun oft nachts, um Aufträge zu erfüllen, berichtet Vyshlinsky. Der Strom sei in den Nacht­stunden seltener abgestellt, erklärt der Experte. Der produktivste Sektor der ukrainischen Wirtschaft, die IT‑Branche, steht vor einer Herausforderung. Ukrainische IT‑Spezialisten deckten sich nun mit Generatoren und Powerbanks ein. Doch ein Ausfall des Internets oder ein Netz mit der Geschwindigkeit einer Schnecke lässt sich mit Notstrom nicht überbrücken. Wie anderswo in Osteuropa ist die Digitalisierung in der Ukraine weit fortgeschritten. Nun geht es nicht mehr nur um die Zerstörung von Fabriken. Die russischen Angriffe entziehen der ukrainischen Wirtschaft die Grundlagen.

Das CES prognostizierte vor den Angriffen am 10. Oktober einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) um 30 Prozent in den ersten neun Kriegsmonaten. „Es könnte schlimmer um uns stehen. Und für 2023 hatten wir sogar ein leichtes Wachstum erwartet. Damit ist nicht mehr zu rechnen“, sagt Vyshlinski. Sollte die Ukraine die Energiekrise bald in den Griff kriegen, würde das BIP um weitere 5 Prozent schrumpfen. Andere Szenarien seien aber auch denkbar. „Wenn wir im Winter keine Heizung haben, gibt es eine humanitäre Katastrophe. Dann werden wir eine weitere Massenflucht erleben“, sagt Vyshlinsky.

Barbesitzer in Kiew werden kreativ

Stanislav Grigorenko träumt von einer Tauschwirtschaft, um seinen „Club in Podil“ im gleichnamigen Szeneviertel über den Winter zu retten. Schon jetzt verdiene sich ein Gast, der eine Powerbank oder Kerzen vorbeibringt, einen Shot. Grigorenko holt einen Kirschlikör vom Regal und lässt kosten. „Die Kirschen kommen aus dem Garten meiner Oma“, sagt er. Er trägt eine Fedora wie Humphrey Bogart und lächelt verschmitzt hinten den Kerzen, die seine Bartheke beleuchten. Falls es schwierig werde, die Getränke mit Geld zu bezahlen, könnten Gäste etwa eine Schicht hinter der Theke übernehmen, meint der Besitzer. Grigorenko denkt an Menschen, denen das Ausgehen angesichts einer Inflation von 30 Prozent in der Ukraine zu teuer geworden ist. Ohne Strom funktionieren aber auch Geldautomaten nicht mehr. Die Bargeldversorgung wird schwierig.

Grigorenko hat in dem für seine Kneipen und Clubs berühmten Viertel eine Hilfsgruppe für die Barbesitzer ins Leben gerufen. Hat die eine Kneipe keinen Strom, schickt die andere Eiswürfel vorbei. Einige Bars und Restau­rants haben sich mit Generatoren ausgerüstet. Sie könnten zusehen, wie ihre Konkurrenz an den Schwierig­keiten durch den Strommangel scheitert und ihr Umsatz steigt, weil vom Essen und Trinken in der Dunkelheit genervte Gäste lieber bei ihnen das Summen der Notstromgeräte ertragen. Die Situation schweiße aber zusammen, meint Grigorenko. „Außerdem kennen wir uns alle in Podil“, sagt er.

Grigorenko hat seinen Club als Veranstaltungsort nach dem Beginn des russischen Angriffs am 24. Februar in einem Keller gegründet. Er diente als Bunker während der Belagerung von Kiew im März. Dem Barbesitzer scheint es an Zuversicht nicht zu mangeln. „Ohne Strom könnten Musiker immer noch Live-Gigs mit Schlag­zeug oder Gitarre spielen, und die Gäste sind hier sicher vor Raketen“, sagt er. Und der Likör aus Omas Kirschen schmeckt auch bei Kerzenschein.

Die Kiewer Lehrer Ivan Vereshaka und Liudmyla Tabolina müssten wohl zu früh aufstehen, um abends noch ein Konzert in Podil zu besuchen. Der Unterricht beginnt für sie morgens um 8 Uhr in ziemlich finsteren Klassenzimmern. Schulen werden zwar wie Krankenhäuser mit Priorität versorgt. Strom sparen müssen sie dennoch. „Wir haben eine LED‑Girlande aufgehängt“, erzählt Tabolina. „Dabei ist noch gar nicht Weih­nachten.“ Sie trifft ihren Kollegen im Büro von Yaroslava Mozgova von der Nichtregierungsorganisation Osvitoria. Die NGO unterstützt Bildungsreformen in der Ukraine.

Ohne Strom und Internet kein Homeschooling

Wie in der Ukraine das Schuljahr 2022/2023 aussehen soll, sei im Sommer noch nicht klar gewesen, so die Direktorin einer privaten Grundschule in Kiew. In sicherer geltenden Regionen wie Kiew sollte wieder in Präsenz unterrichtet werden, entschied das Bildungsministerium. Die Luftangriffe im Oktober und die neuen Gefahren für Kiew durch iranische Kamikazedrohnen waren zum Start des Schuljahrs im September noch nicht abzusehen. Viele ukrainischen Lehrer kritisieren nun, die Regierung habe es versäumt, für verschiedene Szenarien zu planen. Denn auch das Homeschooling ist wegen Strom und Internetausfällen keine Alternative mehr.

Die beiden Kiewer Lehrer meinen, dass der Präsenzunterricht in der jetzigen Lage die beste der schlechten Alternativen sei. „Schulen haben Luftschutzkeller. Da ist es für Kinder sicherer als im zehnten Stock bei ihnen zu Hause“, meint die Lehrerin.

Die beiden Lehrer registrieren erstaunt, wie ihre Schüler sich im funzeligen Licht von LED‑Leuchten über ihre Hefte beugen oder gelassen in die Bunker hinabsteigen. Manchmal erschreckt es sie auch, wie der Krieg für Kinder und Jugendliche zum Alltag geworden ist. Yaroslava Mozgova berichtet, dass Unicef die Ukraine bei der psychologischen Hilfe für Schüler berät. „Das hat bei uns leider keine Tradition“, sagt sie.

Ihr Kollege Ivan Vereshaka unterrichtet an einer öffentlichen Schule Mathematik. Er floh im Sommer aus dem besetzten Cherson nach Kiew. Wie er aus Cherson entkommen ist und warum er flüchten musste, will er nicht erzählen. Der Mathematiklehrer spannt seine Glieder an, als er nach den Schülerinnen und Schülern in der Heimatstadt gefragt wird. Er habe zunächst VPN‑Verbindungen genutzt, um heimlich weiter Unterricht zu geben, erzählt Vershaka. „Jetzt gebe ich am Handy einem ehemaligen Schüler Instruktionen, damit er unterrichten kann“, sagt Vereshaka. Er muss sein Smartphone in Kiew dafür aufladen können. Die Zukunft hängt nicht immer an einem seidenen Faden. Manchmal ist es auch ein Handykabel.

Von Cedric Rehman/RND