Ringen ums Öl: Besuch auf Deutschlands einziger Bohrinsel Mittelplate – landeszeitung.de

Berlin. Kann man Chef einer Ölbohrinsel und gleichzeitig Umweltschützer sein? Martin Buttchereit findet, man kann. Zumindest, wenn man mit einem gewissen Pragmatismus auf die Welt blickt. „Unser Alltag ist ohne Öl nicht vorstellbar, und wir betreiben hier eine der sichersten, saubersten und effizientesten Förderanlagen der Welt“, sagt der gelernte Schiffsbauingenieur. „Aus meiner Sicht ist das gelebter Umweltschutz.“

Buttchereit ist Betriebsleiter der Mittelplate, der einzigen deutschen Bohr- und Förderinsel für Erdöl. Der Koloss aus Stahl und Beton liegt sieben Kilometer vor der Küste in der Elbmündung zwischen Friedrichskoog und Cuxhaven. Rund eine Million Tonnen Rohöl fördert der Konzern Wintershall Dea dort pro Jahr – mitten im Nationalpark Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer.

Ölbohrungen im Naturschutzgebiet – was nach einem Schildbürgerstreich klingt, ist in der deutschen Nordsee seit 1987 Realität. Etwa 40 Millionen Tonnen Öl wurden dort bereits gefördert, so viel wie Deutschland in etwa fünf Monaten verbraucht. Das ist nicht viel, aber es ist auch nicht nichts. Gut 2 Prozent des deutschen Bedarfs deckt die heimische Produktion derzeit, der größte Teil davon stammt aus der Mittelplate.

Überall steckt Erdöl drin

Natürlich weiß auch Betriebsleiter Buttchereit, dass es der Natur und dem Planeten ohne Öl- und Gasförderung besser ginge. Aber er weiß eben auch, dass das auf absehbare Zeit eine Vision bleiben wird.

98 Prozent der Autos auf Deutschlands Straßen fahren mit Benzin oder Diesel. Jede vierte Heizung wird mit Öl befeuert. Und bei den Gegenständen des täglichen Gebrauchs sind Kunststoffe und chemische Bestandteile auf Mineralölbasis derart verbreitet, dass unser Leben ohne sie ziemlich trist wäre. Shampooflasche, Zahnbürste, Smartphone, Sofa, Wurstpelle, Gesichtscreme, Kopfschmerztablette – überall steckt Erdöl drin.

Man kann unsere Abhängigkeit von dem schwarzen Kraft- und Schmierstoff beklagen – leugnen kann man sie nicht. Und wenn das Öl doch nun mal gebraucht wird, ist es dann nicht sinnvoll, so viel wie möglich unter strengen deutschen Sicherheitsvorschriften zu fördern, statt es von irgendwo aus Schwellen- und Entwicklungsländern zu importieren, wo niemand so genau hinsieht?

Mittelplate-Chef Buttchereit findet: Ja. Viele Umweltschützer finden: Nein. Aus ihrer Sicht ist die Bohrinsel im sensiblen Ökosystem Wattenmeer eine einzige Provokation. Ein Relikt aus der Vergangenheit. Und ein Symbol dafür, was schiefgelaufen ist im Zeitalter fossiler Energien.

Zwar ist in 35 Betriebsjahren kein einziger Zwischenfall dokumentiert worden, bei dem Öl ins Watt gelangt wäre. Aber so lange die Mittelplate fördert, besteht zumindest theoretisch die Gefahr einer Havarie. Die Bilder von der explodierten Deepwater Horizon im Golf von Mexiko mag sich niemand für das Wattenmeer vorstellen. Hinzu kommen Schiffsbewegungen, Lärm und künstliches Licht – alles Dinge, die in einem Schutzgebiet eigentlich nichts verloren haben. Und außerdem will Deutschland klimaneutral werden. Sollte man da nicht mit gutem Beispiel vorangehen und die Ausbeutung fossiler Rohstoffe endlich beenden?

Die Berliner Ampelkoalition sah das vor nicht allzu langer Zeit exakt so. „Wir wollen keine neuen Genehmigungen für Öl- und Gasbohrungen jenseits der erteilten Rahmenbetriebserlaubnisse für die deutsche Nord- und Ostsee erteilen“, heißt es im Koalitionsvertrag. Der allerdings wurde vor dem russischen Angriff auf die Ukraine geschlossen.

Die „Zeitenwende“ hat dazu geführt, dass vieles im Energiesektor neu bewertet werden muss. Atomkraft, Braunkohle, Gas und eben auch die heimische Erdölförderung.

All der Streit, die Widersprüche und Emotionen der deutschen Energiedebatte konzentrieren sich auf der Mittelplate wie unter einem Brennglas. Wie sicher ist unsere Energieversorgung? Wie schnell machen wir mit dem Ausstieg aus Kohle, Gas und Öl ernst? Welche Konsequenzen unseres Konsums sind wir bereit, selbst zu tragen, welche exportieren wir in andere Länder? Und welche Rohstoffe soll eine nachhaltige Industrie künftig verarbeiten?

Von den Antworten auf diese Fragen hängt auch ab, wie es mit der Bohr- und Förderinsel weitergeht.

Zutritt nur nach Training

Wer die Mittelplate besuchen will, muss Zeit mitbringen. Ein Sicherheitstraining für das Überleben auf See ist Grundvoraussetzung für das Betreten der Insel, fast einen ganzen Tag lang nimmt es in Anspruch. Wer das Training geschafft hat, muss den Gezeitenkalender studieren, denn die Schiffe können nur bei Hochwasser fahren. Was das angeht, sind die 160 Arbeiterinnen und Arbeiter der Bohrinsel abhängig von den Launen der Natur.

An einem Dienstag im Oktober zwingt die Natur zum frühen Aufstehen. Um 5 Uhr in der Früh betritt der Betriebsleiter Buttchereit die Landstation in Cuxhaven. Alles, was die Mittelplate braucht, wird hier verladen, vom Bohrkopf bis zum Schokoriegel. Besucherinnen und Besucher werden wie am Flughafen gescannt, auch ein fast 20-minütiges Sicherheitsvideo ist Pflicht. Immerhin gibt es Kaffee.

Es ist noch dunkel, als das kleine Passagierschiff „Sara Maatje IV“ den geschichtsträchtigen Amerikahafen verlässt. Die See ist ruhig. Das Schiff mit seinen nur 120 Zentimetern Tiefgang schaukelt trotzdem ordentlich. Nach gut 30 Minuten Fahrt setzt die Dämmerung ein – und dann taucht die Mittelplate langsam aus dem Morgennebel auf.

Sie hat etwas Sakrales, wie sie da so im Dunst liegt. Aus der Ferne sieht der 90 Meter hohe, mit Metallplatten verkleidete Bohrturm aus wie der Glockenturm einer Kirche. Der gewaltige Schwerlastkran nebenan ruft jedoch schnell in Erinnerung, dass es sich hier um eine Industrieanlage handelt.

Das Festmachen und der Überstieg sind eine Sache von Minuten, Betriebsleiter Buttchereit mahnt trotzdem zur Vorsicht: „Immer eine Hand am Geländer.“

Wenig später steht der Mann mit dem markanten Kinnbart auf dem Helikopterdeck, von wo man einen Blick über die gesamte Insel hat, und gerät ins Schwärmen. „Die gewaltige Kraft, die präzise Technik, das ist etwas ganz Besonderes für einen Ingenieur, damit arbeiten zu dürfen“, sagt er.

2000 PS leistet der Motor der Bohranlage, mit unglaublichen 100.000 Newtonmetern Drehmoment treibt er das Bohrgestänge in den Meeresgrund. Zum Vergleich: Die Radmuttern beim Auto zieht man mit etwa 110 Newtonmetern an.

Buttchereit weiß das alles aus dem Kopf. Er hat die Bohranlage mit dem Hersteller zusammen konfiguriert. Den Schwerlastkran auch. „Das ist eine der leistungsstärksten Bohranlagen Europas“, sagt er. Die Norweger würden diesen Titel zwar ebenfalls für sich reklamieren. „Aber die sollen mal nicht so die Backen aufblasen.“

Die Spielzeuge für große Jungs sind das eine, wirklich stolz aber ist der Betriebsleiter auf die Sicherheitsstandards der Insel, die eigens für den Einsatz im Wattenmeer konzipiert worden sind. Anders als die Unglücksplattform Deepwater Horizon schwimmt die Mittelplate nicht, sondern ruht auf vergleichsweise festem Grund im Schlick. Eine meterhohe Spundwand schützt das hufeisenförmige Bauwerk vor Wind und Wellen, das Fundament besteht aus einer flüssigkeitsdichten Wanne aus Stahl und Beton. Selbst wenn Öl austreten sollte, könnte es nicht ins Meer fließen, sondern würde von der Wanne zurückgehalten.

Unkontrollierbare Ölfontänen sind selbst im Unglücksfall extrem unwahrscheinlich. Anders als im Golf von Mexiko stehen die norddeutschen Lagerstätten nicht unter Druck, mit Pumpen muss der flüssige Rohstoff an die Oberfläche geholt werden.

Selbst das Regenwasser wird in Tanks gesammelt und zur Reinigung auf das Festland transportiert. „Alles, was wir auf diese Insel bringen, nehmen wir auch wieder mit“, verspricht Buttchereit. „Nicht mal eine Zigarettenkippe fällt hier ins Wasser.“ Als er während des Rundgangs über die Insel eine FFP2-Maske auf dem Boden entdeckt, bückt sich der Chef und steckt sie in die Tasche seines Overalls.

Was man bei einem Besuch auf der Mittelplate vergebens sucht, ist Öl. Selbst der Bohrkeller, von wo aus die gewaltigen Rohrleitungen in den Untergrund gehen, ist fast schon klinisch rein. In einer angrenzenden Werkstatt hängt ein Schild: „Ordnung + Sauberkeit = Sicherheit“.

Eine Pipeline führt zur Küste

Das Öl, das mit etwa 80 Grad aus den Lagerstätten in 2000 bis 3000 Metern Tiefe gepumpt wird, fließt über eine Pipeline nach Friedrichskoog und von dort in den Chemiepark Brunsbüttel sowie die Raffinerie Heide, die große Teile Schleswig-Holsteins sowie den Hamburger Flughafen mit Heizöl, Diesel und Kerosin versorgt. Es ist ein weitgehend geschlossenes System, das seit Jahren zuverlässig funktioniert und an dem rund 1000 Arbeitsplätze hängen.

Angesichts des Ölboykotts gegen Russland würde Wintershall Dea gerne die Fördermenge erhöhen, ein bislang nicht erschlossenes Vorkommen südlich der bisherigen Abbaugrenzen gäbe die Möglichkeit dazu. Rund zwei Millionen Tonnen Öl lagern in diesem sogenannten Südzipfel, mit kilometerlangen Horizontalbohrungen ließen sie sich erreichen. „Die Förderung dieses Öls wäre mit der vorhandenen Infrastruktur von der Bohr- und Förderinsel Mittelplate problemlos möglich, zusätzliche Auswirkungen auf die Umwelt sehen wir keine“, sagt Wintershall-Dea-Chef Mario Mehren.

Nach anfänglicher Skepsis hat die Landesregierung von Schleswig-Holstein inzwischen vorsichtige Zustimmung signalisiert, will allerdings erreichen, dass Wintershall Dea im Gegenzug einem früheren Ausstieg aus der Ölförderung zustimmt. Die bisherige Konzession läuft bis 2041, nach dem Willen der Politik soll schon 2039 Schluss sein.

Aus Sicht des Unternehmens wäre das ein schlechter Deal. Ein früheres Förderende sei „weder betriebswirtschaftlich akzeptabel noch volkswirtschaftlich sinnvoll“, sagt Konzernchef Mehren. „Auch 2040 werden noch Millionen Autos mit Verbrennungsmotoren auf Deutschlands Straßen unterwegs sein, und als Rohstoff für die chemische Industrie wird Erdöl auf Jahrzehnte unverzichtbar bleiben.“

Mittelplate-Chef Buttchereit sieht das genauso. „Wir fördern hier seit 35 Jahren Öl und könnten das noch 30 Jahre fortführen“, sagt er. Die Reserven würden bis in die 2050er-Jahre reichen, mindestens. Man müsste sie nur lassen.

Von Andreas Niesmann/RND