Sie sind so frei – landeszeitung.de

Eine Tonne Lebendgewicht baut sich vor der Kühlerhaube von Henrik Trapp auf. Gut zwei Meter groß, drei Meter lang, dunkelbraunes Fell, zwei spitze Hörner: Ein Wisentbulle blockiert den Weg vor dem schwarzen Pickup. Weitere Tiere trotten heran, starren auf das Auto. Trapp legt den Rückwärtsgang ein, Kratzer im Lack kann er nicht gebrauchen.

Henrik Trapp ist Ranger in der „Wisent-Welt-Wittgenstein“ in Nordrhein-Westfalen. Und Bulle „Zac“ weiß genau, was es bedeutet, wenn er zu ihnen ins Gehege fährt: „Der Dicke will gucken wegen Futter“, sagt Trapp. Im Fresseifer kann es schon mal passieren, dass die Tiere dem Auto zu nahe kommen.

Wisente, sagt Trapp, seien sonst die Ruhe selbst. Er nennt sie auch „sanfte Riesen“. Andere sprechen von Urtieren oder den Königen der Wälder. In Deutschland ist der Europäische Bison, so der offizielle Zweitname, schon seit Jahrhunderten ausgestorben. Das letzte freilebende Exemplar schoss der Mensch in den 1920er-Jahren im Kaukasus tot.

Rund 100 Jahre später streifen acht Tiere in Trapps Gehege herum, bestaunt und fotografiert von 30.000 Besuchern im Jahr. Eine Touristenattraktion – und ein Arterhaltungserfolg. Aber nicht der Grund, warum die Wittgensteiner Wisente „weltweit“ ein Thema geworden sind, wie Trapp stolz erzählt. Denn hier hinter dem Gatter firmiert nur die „Light-Version“ des Wisentprojekts.

Nur wenige Kilometer weiter, im Rothaargebirge, streifen rund 25 Artgenossen von „Zac“ herum. Komplett frei, ohne Zaun. Ausgewildert von jenem Verein, der auch die Wisent-Welt betreibt. Seitdem ist die einzige freilebende Wisentherde Westeuropas in Südwestfalen zu Hause.

Fragt sich nur: Wie lange noch? Denn seitdem Europas größtes Landsäugetier hier durch die Gegend zieht, gibt es Streit. Seit fast zehn Jahren beschäftigt er Tierschützer, Waldbesitzer, sogar den Bundesgerichtshof. Über allem steht mal wieder die Frage: Wie wild darf es in Deutschland sein?

Der Streit um das Wisent landete beim Bundesgerichtshof

In sicherer Entfernung von „Zac“ springt Henrik Trapp aus seinem Pickup und wirft Haselnüsse aus – die Wisente pilgern hinterher. Trapp, 26, kann alles über die Tiere erzählen: Pflanzenfresser, bis zu 60 Stundenkilometer schnell. Jetzt im Herbst wächst dichtes Fell auf ihrem Buckel, dem Widerrist.

Er kümmert sich nicht nur um die eingezäunten Tiere, sondern auch um die freilebende Herde. Sie bewegt sich zwar frei, doch war offiziell stets in Besitz des Vereins. Die Ranger fütterten im Winter zu, verfolgten ihre Bewegungen per GPS-Signal. Und die Peilsender zeigten schon bald nach dem Projektstart 2013 ein Problem an.

Denn die vorgesehene 4300 Hektar große Waldfläche reichte den wilden Wisenten zum Leben nicht aus. Sie wanderten über den Bergkamm bis ins Hochsauerland – anderer Kreis, andere Konfession. Und viel Wald in Privatbesitz. Hier knabbern die Wisente liebend gern die Rinde von Buchen ab, sie schälen die Stämme regelrecht: Im schlimmsten Fall sterben die Bäume danach ab. Die Waldbesitzer wollten die Tiere nicht dulden und klagten. Sie pochten auf den Schutz ihrer Wälder, der Verein auf den Schutz einer fast ausgestorbenen Art.

Der jahrelange Rechtsstreit zog sich bis zum Bundesgerichtshof; hier nahm der Wisentverein im Juli seine Revision zurück. Seitdem ist ein Urteil gültig, wonach der Verein dafür sorgen muss, dass die Wisente den Wäldern der Kläger fernbleiben. Sonst beginge das Wisent quasi Hausfriedensbruch.

Doch Ranger Trapp und der Wisentverein wählten eine Lösung, die alle überrumpelte: Sie kündigten den Projektvertrag mit dem zuständigen Kreis und weiteren Partnern. Die Wisente, erklärte der Verein, seien jetzt „herrenlos“ und sich selbst überlassen. Seitdem stromern 25 riesige Wildrinder durchs Sauerland, begehen munter Hausfriedensbruch, futtern Buchenrinde und keiner kümmert sich um sie. Wenn es schon nicht gelingt, sie in einem der größten Waldgebiete Deutschlands wieder anzusiedeln – hat das Wisent überhaupt eine Chance im Land?

Eine Stadt und ihr Maskottchen

Der Ursprung des westfälischen Zuchterfolgs ist Bad Berleburg: 20.000 Einwohner, schwarz-weiße Fachwerkhäuser mit grauen Schieferdächern, viele Wandertouristen. Und mittendrin: das Wisent.

Es gibt Autoaufkleber mit dem Motto „Pro Wisent“, eine Wisentstatue auf einer Kreisverkehrsinsel, einen Wisentkneipenstammtisch. Sogar im Wappen der Stadt ist das Tier verewigt. Motto: Wildnis, Wirtschaft, Wagemut.

Da ist es fast schon logisch, dass der Bürgermeister zugleich Vorsitzender des Wisentvereins ist. Mit einem Lächeln streicht Bernd Furhmann einem Wisent in „Zac“-Größe durch das dichte Stirnfell. Neben dem ausgestopften Bullen hängt im Bürgerhaus auch noch ein Wisentkopf an der Wand.

Wenn man Fuhrmann, 56, nach seiner Begeisterung für die Tieren fragt, wird er kurz poetisch. Ihr Anblick sei „majestätisch“. Er erinnert sich, wie die freien Wisente im Winter einmal einen Hang heruntergetollt seien, wie kleine Kinder im aufwirbelnden Schnee, „Lebensfreude pur“, sagt er.

Wenn es um den juristischen Ärger geht, wird Fuhrmann ernster. „Wir hätten nie geglaubt, dass es so viele Widerstände geben wird.“

Er ist seit 2008 im Vorstand des kleinen Vereins, seit 2003 Bürgermeister – er hat Aufstieg und Fall des Wisents von Anfang an miterlebt. In vielen Runden mit Waldbauern und Lokalpolitik um die Zukunft der Tiere gerungen. Für alle Kritikpunkte, zigfach durchgekaut, hat er eine Antwort.

Die Buchenschäden seien nicht absehbar gewesen in der Testphase des Projekts, als die Wisente auf einer eingezäunten Fläche auf die Freiheit vorbereitet wurden.

Alle Versuche, den Radius der wilden Herde einzuhegen – mit menschlichen Duftstoffen oder einem virtuellen Zaun, der über Halsbänder elektrische Schläge an die Wisente verteilt – seien bislang gescheitert.

Und die naheliegendste Lösung, einen realen Zaun oder ein Großgatter, will der Verein um jeden Preis vermeiden: Dann wären die Tiere ja nicht mehr frei.

„Die Tiere haben den Vertrag nicht gelesen“

Fuhrmann hebt den Artenschutz und den Nutzen für die Natur hervor. So trägt das Wisent etwa Pflanzensamen in seinem Fell umher, Kröten laichen in seinen Hufspuren am Wasser. Doch von Anfang ging es auch ums Marketing. Die Region gewann mit den freien Wisenten ein Alleinstellungsmerkmal, Bad Berleburg ein Maskottchen. Warum haben sie dann den Projektvertrag für die wilde Herde gekündigt?

Mit den Partnern, darunter der Kreis Siegen-Wittgenstein, habe man sich nach dem BGH-Urteil nicht auf eine Zukunft für das Projekt einigen können, so stellt Fuhrman es dar. Man sei auf einer „Ebene von Nicht-Gesprächen.“ Es geht dabei auch um die finanzielle Verantwortung.

In den letzten Jahren entschädigte ein jährlich mit 50.000 Euro gefüllter Fonds die Waldbauern für die Baumschäden; eingezahlt hatten vor allem das Land und der Kreis. Doch nach dem Urteil drohen Anzeigen durch die Waldbesitzer und happige finanzielle Forderungen an den Verein als Eigentümerin der Tiere. Fuhrmann und seinen Kollegen schwebt deshalb eine Art Betreuungsvertrag vor: Sie wollen die freien Wisente weiterhin pflegen, aber nicht mehr besitzen. Vor allem aber wollen sie ihr einzigartiges Wisentprojekt behalten.

„Es gab in Deutschland keine Blaupause für das Projekt“, sagt Furhmann. „Die Tiere haben den Vertrag nicht gelesen – die erkunden von hier aus die Region.“

Die Rettung des Wisents

Das Wisent reißt keine Schafe wie der Wolf, es vernichtet keine Ernten wie die Wildgans. Es schält Buchen. Droht ihm dennoch dasselbe Schicksal wie dem Wolf oder dem Biber? Vom gefeierten Rückkehrer zum „Problemtier“ – so erging es einigen Wildtieren in Deutschland. Bewegen sie sich zu frei, fühlt sich der Mensch eingeschränkt.

Doch wenige Arten sind so gefährdet wie das Wisent. Ihr weltweiter Bestand liegt unter 10.000, die meisten leben in Osteuropa in Reservaten. Doch es gibt auch freie Herden, etwa in Polen. Alle existierenden Wisente stammen von nur zwölf Tieren ab, die in den 1920er-Jahren in Gefangenschaft lebten. In einem Europäischen Zuchtbuch werden seitdem alle Nachfahren eingetragen. Da ihr Genpool so klein ist, braucht es einen regelmäßigen Wisentaustausch zwischen den existierenden Herden.

Deshalb war auch immer klar, dass sich eine Population von nur 25 Tieren wie im Rothaargebirge nicht selbst erhalten kann. Die Bullen müssen regelmäßig ausgetauscht werden, sonst kommt es zur Inzucht; ohne menschliche Steuerung kann die Herde nicht überleben. Komplett frei wird das Wisent in Deutschland also nie leben können. Das weiß auch der Verein.

Ein vom Kreis in Auftrag gegebenes wissenschaftliches Gutachten kalkuliert mit einer jährlichen Summe von einer halben Million Euro für ein angemessenes Management der westfälischen Herde. Der Verein, so die Wissenschaftler, könne dies allein nicht leisten und empfiehlt einen größeren Projektpartner, zum Beispiel aus dem Umweltschutz. Vor allem braucht es aber eines: einen Konsens, der über die Kreisgrenze hinweg reicht.

Die Sorgen der Waldbauern

Von Anfang an hatte es auf der anderen Seite des Rothaargebirges, im Hochsauerlandkreis, Protest gegeben. Einer der Wortführer wohnt 40 Autominuten von Bad Berleburg entfernt. Haarnadelkurven führen bergauf, bergab, an gestapelten Baumstämmen am Straßenrand vorbei nach Brabecke, einem Ortsteil der Stadt Schmallenberg. Dem Zentrum des Wisentwiderstands.

Hier wohnt Lucas Freiherr von Fürstenberg in einem Herrenhaus aus grauem Stein. Nebenan eine Pferdekoppel, Hühner laufen herum, seine Kinder spielen in einem Wassergraben. Von Fürstenberg ist Sprecher der Initiative „Pro Wald“, in der rund 40 wisentgeplagte Waldbauern organisiert sind. Zwei ihrer Mitglieder fochten den Kampf bis zum Bundesgerichtshof aus.

Von Fürstenberg, 38, leitet den Familienforstbetrieb in dritter Generation. Er hat BWL studiert, trägt Smartwatch und eine dunkle Cap. Auf Seiten der Waldbauern ist er einer der Jüngsten.

Auf einem Foto zeigt er, warum sie sich so über die Wisente ärgern: Zig Gebissspuren ziehen sich wie Striemen über das nackte Holz einer geschälten Buche. Pilze und Bakterien können so eindringen, den Baum von innen zerstören. Im schlimmsten Fall bricht er ab, sagt von Fürstenberg. Dann habe er nur noch Brennholz, kein wertvolles Furnier mehr.

700 Hektar groß ist sein Wald, die Buche macht ein Drittel der Fläche aus. Wie viele Bäume die Tiere schon geschält haben, kann er nicht genau sagen. „Wir können nicht jeden Baum einzeln ablaufen.“ 6 bis 10.000 Euro habe er über die Jahre aus dem Entschädigungsfonds erhalten. Insgesamt wurden bislang 375.000 Euro an die Waldbesitzer ausgezahlt.

Doch es gehe ihm nicht nur um das Geld, sagt von Fürstenberg. Er fühlt sich eingeschränkt in seiner Waldplanung. Es dauere teils 120 bis 140 Jahre, bis er eine Buche ernten könne. Die Wisente trampelten zudem neu gepflanzte Eichen kaputt. Seine Forstmitarbeiter seien zwei bis drei Wochen im Jahr damit beschäftigt, Schäden zu protokollieren, den Tieren hinterherzufahren. „Und die sind schon satt mit Überstunden wegen des Borkenkäfers.“

Das Wisentproblem trifft die Waldbesitzer in einer Phase, in der der Borkenkäfer ihre Forste kahl frisst, der Klimawandel ihre Existenz gefährdet. Alle seien seit Jahren am Anschlag, sagt von Fürstenberg, „emotional instabil“. „Da braucht man nicht unbedingt noch Wisente.“ Dass sich das Holzgeschäft für seine Kinder noch lohne, daran glaubt er nicht mehr.

Auch eine Lösung im Streit mit dem Wisentverein sieht von Fürstenberg nicht. Die Vertragsaufkündigung des Vereins wertet er als „Frontalangriff“ und „Erpressung“. Der Verein habe als Managemententität versagt – „das Vertrauen ist lange weg“.

Das Wisent, sagt von Fürstenberg, sei künstlich in die Gegend gebracht worden. „Es passt hier einfach nicht hin.“

Die Politik kann keine Lösung anbieten

Der Konflikt wirkt festgefahren, das Verhältnis vergiftet. Die Region, so scheint es, ist in zwei Lager gespalten. Das Contra-Lager aus Waldbauern und Lokalpolitik. Ein großes Pro-Lager um den Verein und Naturschutzvereinen wie WWF oder Nabu. In lokalen Umfragen sprachen sich mehr als 80 Prozent für das Projekt aus. Die Kinder der Waldbesitzer werden in der Schule bisweilen gefragt, warum sie die Wisente hassten.

Und die Politik kann nicht als Mittler einspringen, weil sie von Beginn an selbst in das Projekt involviert ist. Vom Land Nordrhein-Westfalen bekam der Verein Zuwendungen von insgesamt 2,4 Millionen Euro, der Kreis Siegen-Wittgenstein steuerte schon zu Beginn 350.000 Euro bei.

Die Kreisvertreter kritisieren die einseitige Kündigung des Vereins als „juristischen Kniff“ und gehen davon aus, dass diese nicht rechtswirksam ist. Es sei „ausgeschlossen, dass die Tiere in der Vertragszeit herrenlos werden“. Nun gebe es Überlegungen, die Tiere in andere Arterhaltungsprojekte zu überführen, heißt es. Das würde das Aus für die freie Wisentherde bedeuten. Die eingezäunten Tiere der „Wisent-Welt“, dem Touristenmagneten, würden dagegen weiter betreut.

Das Umweltministerium Nordrhein-Westfalens, grün geführt, teilte bislang nur mit, dass man die jüngste Entwicklung bedaure. „Vertragsrechtliche, artenschutzrechtliche und finanzielle Fragen“ gelte es nun zu klären.

Das Wisent und Winterfrage

Der in die Ecke gedrängte Wisentverein lässt sich indes von einem Hamburger „Staranwalt“ beraten, wie die Lokalpresse ihn vorstellt. Läuft es schon wieder auf einen jahrelangen Rechtsstreit hinaus? Und was machen die Wisente derweil im Winter?

Erst einmal zeichnet sich im Kreistag eine Mehrheit dafür ab, das Projekt für mindestens neun Monate zu verlängern. Er wird noch vor Weihnachten abstimmen. So soll gesichert werden, dass die Herde auf jeden Fall gut über den Winter kommt. Und natürlich entsteht damit eine Frist, um nach einem neuen Träger zu suchen, der die Nachfolge des Wisent-Vereins antreten könnte.

Trotzdem, so richtig glücklich ist keiner über die ungewisse Zukunft. Ranger Henrik Trapp und Vereinschef Fuhrmann fürchten um ihren Einfluss, Waldbesitzer von Fürstenberg weitere abgeknabberte Buchen. Nur eines ist sicher: Am wenigsten etwas dafür kann das Wisent.

Von Maximilian König/RND