„Unterm Strich steht man doch als Depp da“ – landeszeitung.de

Berlin. Es brauchte eine Extrarunde über den Vermittlungsausschuss, aber am Freitag soll es nun beschlossen werden: Das Bürgergeld löst Hartz IV ab. Für viele Menschen, die auf staatliche Unterstützung angewiesen sind, ändert sich damit vieles. Hier erzählen fünf Betroffene oder ehemals Betroffene, was sie sich vom Bürgergeld erwarten – und was sie befürchten.

„Wenn Kinder eine Ausbildung machen, sollten sie ihr Geld auch behalten dürfen“ – Sandra Koch aus Rostock

Die Rostockerin Sandra Koch ist Mutter von fünf Kindern. 20 Jahre lang hat sie von Arbeitslosenhilfe gelebt, bis sie auf eigene Initiative im September endlich einen Job als Zustellerin fand. Zum Leben reicht das Geld allerdings nicht. Die Familie ist auf die Hilfe der Arche angewiesen. Hinschmeißen und lieber Bürgergeld kassieren? Das will die Rostockerin nicht. „Ich möchte arbeiten, andere Menschen kennenlernen und nicht zu Hause sitzen“, betont die 43-Jährige im Gespräch mit der „Ostsee-Zeitung“.

An den geplanten Änderungen im Bezug aufs Bürgergeld findet sie vor allem gut, dass den Kindern von Empfängerinnen und Empfängern das selbst verdiente Geld nicht mehr weggenommen werden soll. „Wenn Kinder eine Ausbildung machen, sollten sie ihr Geld auch behalten dürfen“, sagt sie. Aus ihrer langjährigen Erfahrung als Arbeitslose und Hartz-IV-Empfängerin weiß sie zu berichten, dass die vielen Maßnahmen wie Bewerbungstraining nur wenig bringen würden. Eine Umschulung dagegen, die sie gerne gewollt hätte, wäre ihr verweigert worden. Sanktionen im Gießkannenprinzip zu verteilen hält sie für falsch. Die meisten würden arbeiten wollen, man müsse vielmehr im Einzelfall hinschauen und sanktionieren, wer wirklich nicht wolle.

Sandra Koch aus Rostock lebte 20 Jahre lang von Arbeitslosenhilfe, arbeitet jetzt als Zustellerin.

„50 Euro mehr sind besser als nichts“ – Dirk Gode aus Ostholstein

„Die 50 Euro mehr sind besser als nichts. Wir wollen uns nicht beschweren. Aber was ist die Erhöhung schon, wenn man auf die Preise guckt? Eine wichtige Frage ist für mich, was man dazuverdienen und wie viel man davon behalten darf. Arbeiten finde ich wichtig: Wenn man von der Gemeinschaft etwas kriegt, muss man auch etwas zurückgeben. Ich finde es nicht gut, wenn alle Hartz-IV-Empfänger über einen Kamm geschoren werden“, sagt er den „Lübecker Nachrichten“.

Dirk Gode (44) aus Ahrensbök, Kreis Ostholstein, Aufstocker

„Beim Jobcenter habe ich mich immer wie ein Mensch zweiter Klasse gefühlt“ – Oliver Jagieniak aus Gifhorn

„Beim Jobcenter habe ich mich immer wie ein Mensch zweiter Klasse gefühlt. Ich wollte ja arbeiten und habe mich darum bemüht. Doch mir wurden Jobs bei Zeitarbeitsfirmen auf dem Bau angeboten, die konnte ich nicht machen, weil ich Höhenangst habe. Dann drohten Sanktionen – das setzte mich ganz schön unter Druck. Aber ich habe trotzdem auch Verständnis für die Jobcentermitarbeiter, sie haben auch Stress. Momentan ist meine Partnerin arbeitslos und bekommt 27 Euro Arbeitslosengeld im Monat, weil ich zu viel verdiene.

Ich habe 1500 Euro netto im Monat. Doch die Miete kostet allein monatlich 700 Euro, dazu 200 Euro Nebenkosten, und für den Krippenplatz unserer Tochter zahlen wir 192 Euro plus Essensgeld. Wie soll man da noch existieren? Gerade wenn alles teurer wird. Ich bin skeptisch, ob das Bürgergeld daran etwas ändert. Aber ich hoffe, dass mit dem Bürgergeld ein Unterschied zwischen den Menschen gemacht wird, die arbeiten wollen und denen, die keine Lust dazu haben“, berichtet er im Gespräch mit der „Aller-Zeitung“.

Oliver Jagieniak (37) aus Gifhorn – bis vor Kurzem Hartz-IV-Empfänger

„Unterm Strich steht man doch als Depp da“ – Mike Hertwig aus Leipzig

Mike Hertwig arbeitet für eine kleine Leipziger Baufirma im mitteldeutschen Raum. Seit sechs Jahren, mindestens 40 Stunden wöchentlich, Aufstehen um 5 Uhr, Notdienst, wenn irgendwo eine Tür oder ein Tor klemmt, auch mal rund um die Uhr. Ein hartes körperliches Pensum, für das der Monteur einen Stundenlohn von 14 Euro bekommt, 2 Euro über Mindestlohn. Darüber beschweren will er sich aber nicht. „Ich arbeite gern“, sagt er. „Ich will einen ordentlichen Job abliefern, und der macht mir vor allem im Team mit meinem Kollegen Spaß“, sagt er der „Leipziger Volkszeitung“.

Der Spaß vergeht dem gelernten Gießer, wenn er Vergleiche zieht. Mit denen, die nicht arbeiten gehen und die mit dem Bürgergeld ab Januar einen Regelsatz von 502 Euro bekommen, 53 Euro mehr als bisher. Hertwig, der selbst eine Zeit lang Hartz IV bezogen hat und sich aus der Abhängigkeit von Sozialtransfers herauskämpfte, rechnet vor, dass für ihn und seine Familie trotz anstrengendem Job nach Abzug aller Kosten am Monatsende kaum mehr als 100 Euro übrig bleiben.

Große Sprünge sind da nicht drin. Seine Frau arbeitet 30 Stunden als Lageristin bei einem Floristikanbieter, die Tochter geht in die 9. Klasse aufs Gymnasium, ihren Opel Astra fahren sie seit 14 Jahren. Weil Familie Hertwig knapp über der Bemessungsgrenze liegt, erhält sie kein Wohngeld. Haushalte mit niedrigem Einkommen können dagegen ab 2023 im Schnitt mit 370 Euro Wohngeld rechnen. „Die Anreize, nicht zu arbeiten, bleiben mit dem Bürgergeld viel zu hoch“, kritisiert der Baumonteur. Und er verschärft die Tonlage. „Ich muss in diesem Winter die Heizung runterdrehen, weil ich nicht weiß, welche Kosten auf mich zukommen. Wer Bürgergeld bezieht, muss da nicht zwingend darauf achten“, macht er seinem Ärger Luft. Und das soll gerecht sein?

„Unterm Strich steht man doch als Depp da“, empört er sich. Früh aufstehen? Sich zur Arbeit auch mal quälen? Müsse man ja mit dem Bürgergeld nicht zwingend. „Da bleibt doch bei der staatlichen Übernahme aller Kosten viel mehr übrig.“

Natürlich weiß auch Hertwig als Ex-Hartz-IV-Bezieher und aus eigener Lebenserfahrung, dass es Menschen gibt, die aus gesundheitlichen Gründen keinem geregelten Job nachgehen können. „Denen soll ja auch sozial geholfen werden“, sagt er. Er gönne ihnen die 53 Euro mehr im Monat, das sei doch keine Frage. Ihm gehe es aber um die anderen, die sich vom Arbeitsmarkt lieber fernhalten. „Der finanzielle Druck, einen geregelten Job annehmen zu müssen, ist leider viel zu niedrig“, klagt der Monteur. Dann klingelt sein Handy, ein neuer Auftrag ruft ihn und seinen Kollegen. In Leipzig wird es langsam dunkel.

Familie Meier: „Wir verzichten auf vieles“

Das mit der Waschmaschine war schon ein Problem. Als diese vor einiger Zeit kaputtging, türmte sich im Haus der siebenköpfigen Familie rasch ein hoher Berg ungewaschener Wäsche auf. Man konnte buchstäblich zusehen, wie das Problem täglich wuchs. Dann griff eine kirchliche Einrichtung Jan und Ina Meier (Namen geändert) unbürokratisch unter die Arme. „Alleine hätten wir uns keine neue Waschmaschine leisten können“, sagt die 38-jährige Mutter.

Familie Meier lebt von staatlicher Unterstützung. Jan Meier hat als junger Mann eine Ausbildung im Handwerk angefangen, aber abgebrochen. Seither nimmt er häufig wechselnde Jobs an, meist für kürzere Zeit. Er hat im Lager gearbeitet, eine Stelle mit Hausmeistertätigkeiten hat er im Sommer verloren. Inzwischen liefert er manchmal Lebensmittel aus. „Wir haben in den letzten Jahren die meiste Zeit Hartz IV bekommen“, sagt der 49-Jährige. „Wenn man ohne Berufsausbildung eine so große Familie hat, bekommt man auch mit Arbeit nicht genug Geld zusammen.“

Die Debatte um das neue Bürgergeld, das Hartz IV jetzt ersetzen soll, ist für die Meiers nicht irgendein Thema aus den Nachrichten. Sie hat existenziell mit ihrem Alltag zu tun. Ebenso wie die Inflation, die ihnen schwer zu schaffen macht.

„Wir verzichten auf vieles“, sagt die Mutter. „Wenn der Käse, den die Kinder gerne essen, jetzt 3,49 Euro kostet, können wir eben nicht mehr drei Pakete kaufen, sondern nur noch eins.“ Statt Butter kommt nur noch Margarine auf den Tisch; wenn diese im Angebot sei, kaufe sie gleich vier Töpfe auf einmal. Ständig vergleicht sie Sonderangebote. Und sie legt Vorräte an. Kinderschuhe oder Kinderpullover kauft sie nicht, wenn diese gerade benötigt werden, sondern wenn es Rabattangebote darauf gibt.

Vom neuen Bürgergeld versprechen sich die Meiers eine echte Entlastung – insbesondere die geplante Erhöhung der Regelsätze macht ihnen Hoffnung: „Niemand soll denken, dass wir jetzt reich werden“, sagt der Vater, „aber uns hilft jeder zusätzliche Euro in der Haushaltskasse wirklich weiter.“

In jüngster Zeit war Ina Meier krank. Aber als sie kürzlich einen Job auf 520-Euro-Basis angeboten bekam, hat sie nicht lange überlegt und gleich zugegriffen – obwohl ein Teil der Einnahmen auf Hartz IV angerechnet wird und gleich wieder weg ist: „Ich bin schon zufrieden, wenn unterm Strich 200 Euro zusätzlich bleiben“, sagt sie.

Dass der Staat Sanktionen gegen Leistungsempfängerinnen und -empfänger verhängen kann, findet Familie Meier indes nur in Ordnung. „Wenn mir jemand Geld gibt“, sagt Jan Meier, „ist es doch völlig gerechtfertigt, dass er im Gegenzug auch etwas dafür verlangt.“

Jan und Ina Meier leben von staatlicher Unterstützung (Namen geändert)

Von Simon Benne, André Böhmer, Susanne Peyronnet, Christina Rudert, Nina Schacht und Ansgar Nehls