Viel Glitzer, wenig Personal: Musicalbranche kämpft sich aus der Krise – landeszeitung.de

Wenn Sophie Berner in ihrer glitzernden Corsage von der Decke herunterschwebt, scheint alles in Ordnung. Alle Blicke sind auf sie gerichtet, das Publikum jubelt, auch rundherum ist alles bunt, leuchtet, glänzt, die Ränge sind voll. It‘s showtime. Im Kölner Musical Dome feiert „Moulin Rouge“ Premiere. Das war vor zwei Wochen, fast täglich wurde die Show seitdem gespielt.

Rund 20 Millionen Euro wurden in diese neue Produktion gesteckt, etwa 4 Millionen davon in den Umbau des Musical Domes, der sich in einen prachtvollen Nachtclub verwandelt hat, ganz in Rot gehalten. Das Geschäft blüht, könnte man denken bei dem Anblick.

Aber tut es das wirklich? Oder kämpft die Musicalbranche sich nur pompös wieder aus der Pandemiekrise heraus?

„Die Kultur wird sicher noch ein bisschen brauchen, bis sie auf dem Vor-Corona-Stand ist“, sagt Birgit Simmler. Sie ist die erste Vorsitzende der Deutschen Musical Akademie, dem Branchenverband für Musical im deutschsprachigen Raum. „Insgesamt merkt man, dass das Kaufverhalten vorsichtiger geworden ist, auch mit dem Krieg und der Inflation. Die Menschen versuchen, das Geld mehr zusammenzuhalten.“

Trügt der Schein der ausverkauften „Moulin Rouge“-Premiere?

Dazu komme, dass Karten mittlerweile durch die vielen abgesagten und verschobenen Vorstellungen während der Lockdowns eher auf Nummer sicher und kurzfristiger gekauft würden. Letzteres beobachtet auch Maik Klokow, der Produzent vom deutschen „Moulin Rouge“: „Haben die Leute früher drei bis sechs Monate vorher Tickets gekauft, sind es jetzt nur noch ein bis drei Monate“, sagt er, in dem in Dunkelrot gehaltenen Foyer des Musicals Domes sitzend.

Trügt also der Schein der ausverkauften Premiere in Köln? Die Antwort ist differenzierter. „Man merkt, dass im Moment die sehr berühmten Titel sehr gut laufen, die, bei denen die Leute wissen, dass sie einen entspannten Abend haben“, sagt Expertin Simmler. „Alles, was noch nicht so bekannt ist, hat schon damit zu tun, Besucher heranzuholen. Der A+-Titel läuft, der elegante B-Titel muss sich mehr Sorgen machen.“ Ein Phänomen, das sich zuletzt auch in der Konzertbranche beobachten ließ, wo die ganz großen Konzerte wie etwa die von Helene Fischer oder Robbie Williams um die 100.000 Menschen anzogen, Tourneen mittelgroßer Bands hingegen abgesagt werden mussten, weil der Vorverkauf zu schleppend lief.

Personalprobleme machen auch vor Musicalbranche nicht halt

Hinzu kommen Personalprobleme im Kulturbereich, vor denen auch die Musicalproduktionen stehen. „Es ist nicht mehr genug betreuendes Personal am Markt, weil das in der Pandemie aus Zwang in andere Beschäftigungen gegangen ist“, sagt Simmler von der Deutschen Musical Akademie. Das betreffe etwa Bereiche wie Licht- und Tontechnik, aber auch die handwerklichen Gewerke wie die Schneider, und zum Teil auch die Darsteller, die keine Festanstellung gehabt hätten und deshalb in andere Berufe gewechselt seien und nur schrittweise zurückkehrten.

An die Zeit der Lockdowns und Theaterschließungen können sich auch die beiden Hauptdarsteller von „Moulin Rouge“ noch gut erinnern, Sophie Berner und Riccardo Greco. „Anfangs war es fast wie eine Erholung, mal nichts zu tun, aber in der zweiten Welle wurde es seelisch schwierig“, sagt Berner. „Da war klar zu spüren, dass die Kultur als am unwichtigsten erachtet wird.“ Auch Greco sagt, er habe sich die Frage gestellt, wann – und ob – das kulturelle Leben wieder zurückkehre. „Ich habe überlegt, mir einen Foodtruck zu kaufen und italienisches Essen zu verkaufen“, sagt er lachend. Heute kann er über diese Idee scherzen, heute steht er schließlich wieder auf der großen Bühne, vor Publikum, in dessen Gesichter er blicken kann.

Veranstaltungsbranche war vor Corona sechstgrößte des Landes

Doch nicht alle sind auf und hinter die Bühnen Deutschlands zurückgekehrt. Vor Corona war die Veranstaltungsbranche laut Kulturbündnis Alarmstufe Rot die sechstgrößte Branche des Landes, der Weggang vieler schlägt sich da deutlich nieder. „Es fehlt uns an Nachwuchs“, sagt „Moulin Rouge“-Produzent Klokow, „das war früher nie ein Problem.“ Dabei hätten sie mit dem Unternehmen Mehr-BB Entertainment, das neben „Moulin Rouge“ etwa auch das Theaterstück „Harry Potter und das verwunschene Kind“ und das Musical „Starlight Express“ produziert, noch Vorteile gegenüber kleineren Produktionen, sagt er. Sie arbeiteten jetzt viel mit internationalen Fachkräften, auch backstage, weil es auf dem deutschen Markt nicht genug Leute gebe. Das sei etwas teurer und aufwendiger, gehe aber nicht anders.

Für „Moulin Rouge“ in Köln wurde viel Geld in die Hand genommen. Doch die Show kommt auch nicht aus dem nichts – 2018 wurde das Musical erstmals in Boston aufgeführt, ging danach an den Broadway, wo es bereits zehn Tony Awards gewann, und wird zudem mittlerweile in London, Australien und Seoul gespielt. Vorlage ist der gleichnamige oscarprämierte Film von Regisseur Baz Luhrmann. Die Zeichen stehen also auch in Köln auf Erfolg, auch wenn es in der Reihe die erste nicht englischsprachige Version des Musicals ist. „Der Ticketverkauf ist sehr gut angelaufen“, berichtet Klokow.

Die großen Musicals haben alle eine bekannte Vorlage

Sowieso: Schaut man auf die Titel der bekannten Musicals in Deutschland – vom Dauerbrenner „König der Löwen“ bis zu „Tarzan“ –, haben sie alle eins gemeinsam: Sie haben eine berühmte Vorlage, ob das nun ein erfolgreicher Film oder etwa ein Literaturbestseller ist. Adaptionen sind hier eher die Regel als die Ausnahme, das war schon vor der Pandemie und dem Krieg so und ist offenbar nicht aus der Not geboren, die Zuschauerinnen und Zuschauer wieder zurückzugewinnen.

Das streitet in der Branche auch keiner ab. „In Deutschland spielt immer das, was im Rest der Welt auch spielt“, sagt Klokow. Er ist da Realist. „Es gibt wenige große Shows mit deutschen Stoffen, die erfolgreich sind.“ Ähnlich sieht das auch Musical-Expertin Simmler: „Die etablierte Theaterszene setzt eher die großen, etablierten englischsprachigen Musicals ein und entwickelt wenig eigene deutschsprachige Musicals.“

Sind die Deutschen weniger kreativ als die Briten und Amerikaner?

Aber warum? Sind die Deutschen weniger kreativ als die Briten und Amerikaner, als der Rest der Welt? Das glaubt Simmler nicht, sie sieht strukturelle Probleme und hat eine historische Erklärung dafür. „Das Musical hat noch den Ruf aus den 90ern, nur das kommerzielle Entertainment zu sein“, sagt sie. Das sei zwar mittlerweile nicht mehr so, doch nach dem Zweiten Weltkrieg seien in den geförderten Theaterhäusern nur die Sparten Schauspier, Oper und Tanz eingerichtet worden, „das Musical hatte da keinen Platz“. „Wir haben im Bereich Musical bis heute keine wirkliche Normalisierung und Nachholung des deutschen Angebots“, kritisiert sie.

Gleichzeitig zeigt Simmler Verständnis für die großen, nicht staatlich geförderten Musicalunternehmen wie etwa Mehr-BB Entertainment oder auch Stage Entertainment, die größtenteils auf Vorbilder aus dem Ausland zurückgreifen. „Für die Entwicklung eines so großen Musicals braucht man erst mal eine Millioneninvestition“, sagt sie. Im angloamerikanischen Raum werde dabei viel mit Privatinvestoren gearbeitet, in Deutschland sei das keine gängige Praxis. Die öffentlich-geförderten Theater würden fast alle keine Musicals entwickeln, die großen, nicht öffentlich-geförderten Musicalproduzenten hingegen hätten kein sogenanntes Risikogeld zum Entwickeln und griffen deswegen auf die „sichere Bank“ zurück.

„Im deutschsprachigen Markt sind da noch viele Bremsen in den Köpfen“, fasst Simmler zusammen. Bremsen, die in Krisenzeiten noch mehr angezogen wurden. Denn da stauten sich bereits fertige, geprobte Produktionen auf, die dann wegen der Theaterschließungen nicht aufgeführt werden konnten. Die würden nun erst mal auf die Bühne gebracht, bevor Neues produziert werde, so Simmler. „Auch dieser Produktionsstau drückt gerade auf die Innovation.“

Von Hannah Scheiwe/RND