„Viele haben kein Gespür dafür, dass eine Menschenmasse gefährlich werden kann“ – landeszeitung.de

Herr Moussaïd, vor einem Jahr passierte es in Kamerun, vor einem Monat in Indonesien und nun auch in Südkorea: Allein in diesem Jahr haben Massengedränge Hunderte Menschenleben gefordert. Ist die Gefahr für tödliche Gedränge gestiegen?

Ja und nein. Einerseits ist die Gefahr gestiegen, weil Städte zunehmend voller werden und somit auch bestimmte Events und Ansammlungen teilweise überfüllt sind. Musikfestivals mit Zehntausenden Menschen sind ja keine Seltenheit. Jedoch hat die Wissenschaft in den vergangenen Jahren immer mehr Erkenntnisse zu Gedrängen gewonnen – und wir verstehen also immer besser, wie sie entstehen und wie wir sie verhindern können. 2006 gab es in der Wissenschaft einen Wandel, weil Forschende erstmals Videomaterial von einem Massengedränge bei der traditionellen islamischen Pilgerfahrt nach Mekka ausgewertet haben. Dort gab es in den 90ern und 2000ern im Schnitt alle zwei Jahre Massengedränge mit einer riesigen Menge an Todesopfern, aber mit den Erkenntnissen aus der Wissenschaft konnte die Situation verbessert werden.

Wie ist das gelungen?

Beispielsweise, indem sogenannte Flaschenhälse, also Engstellen vermieden werden. So etwas entsteht zum Beispiel, wenn ein Krankenwagen ungünstig neben einer Straße geparkt ist und bei Menschenmassen für eine räumliche Engstelle sorgt. Das kann sehr gefährlich werden, weil sich die gleiche Anzahl an Menschen nun auf einem deutlich engeren Raum befindet. Gerade in solchen Situationen entstehen Unfälle. Wichtig zur Vermeidung von Massengedrängen war auch, dass Einbahnstraßen in Mekka errichtet worden sind – also eine Art Verkehr für Menschen, wie wir ihn vom Autoverkehr kennen. Für jede Richtung gibt es also eine bestimmte Spur. Wenn es so etwas nicht gibt, bewegen sich die Menschen kreuz und quer – und das konnten wir auch in Aufzeichnungen des Gedränges in Südkorea beobachten.

Trotz der wissenschaftlichen Erkenntnisse und entsprechenden Maßnahmen kommt es also immer noch zu solchen Katastrophen – vor einigen Jahren auch erneut in Mekka. Was lief im jüngsten Fall in Südkorea schief?

Was bei einem Gedränge passiert, ist relativ simpel: Zu viele Menschen kommen in einem bestimmten Raum zusammen. Das messen wir anhand der Dichte, in dem Fall also die Zahl an Menschen pro Quadratmeter. Wenn sechs Menschen auf einem Quadratmeter stehen, dann kommen sie bereits in Berührung miteinander. Das kommt zum Beispiel oft in Konzerten vor und ist noch eher ungefährlich. In Seoul gehe ich aber davon aus, dass es mindestens acht bis neun, vielleicht sogar zehn Menschen pro Quadratmeter waren.

Was passiert bei so einer gewaltigen Menge an Menschen?

Die Menschen können sich nicht mehr bewegen – selbst wenn sie wollten, könnten sie also nicht flüchten. Und in solchen Gedrängen kann der Druck der Masse so stark werden, dass Menschen nicht mehr atmen können. Erst fallen sie in Ohnmacht, und wenn der Druck nicht nachlässt, können sie ersticken. Wenn Menschen zudem hinfallen und nicht wieder aufstehen können, kann es zu einer Kettenreaktion kommen, wodurch mehrere Menschen stürzen und sich die Körper folglich aufeinanderstapeln.

Man ist also weitgehend bewegungsunfähig und fremdbestimmt. Kann man dennoch etwas tun, um Schlimmeres zu verhindern?

Es gibt zumindest Strategien, um die eigenen Überlebenschancen zu erhöhen. Wichtig ist, dass man versucht, die Balance zu halten und weniger Sauerstoff zu verbrauchen. Auch wenn man Angst hat, ist es nicht hilfreich, wenn man schreit, weil man dadurch viel Sauerstoff verbraucht. Zudem sollte man möglichst die Arme vor die Brust bewegen, damit man die anderen Menschen zumindest ein bisschen von sich wegbewegen kann – sofern das überhaupt möglich ist. Wichtig ist auch, dass man keine Kraft damit verschwendet, Leute wegzustoßen. Wenn man denkt, dass man selbst geschubst wird, liegt es meist nur an einer Wellenbewegung. Wenn man das aber für einen absichtlichen Stoß hält und ebenfalls schubst, erhöht das den Druck nur noch weiter.

Andere in solchen Situation wegzustoßen klingt egoistisch. Passiert das in Gedrängen häufig?

Nein, dass Leute ganz panisch werden und andere absichtlich umstoßen wollen, ist nur sehr selten der Fall. Tatsächlich werden die Menschen in solchen Situationen sehr kooperativ und versuchen, anderen zu helfen. Zusammenarbeit ist auch sehr wichtig und quasi „ansteckend“: Wenn Leute sehen, wie jemand einer anderen Person hilft, helfen sie auch eher ihren Nachbarn. Wir können also in Fällen wie in Südkorea auch nicht von einer Massenpanik sprechen. Das wird zwar oft als Begriff verwendet, ist aber ein ganz anderes Phänomen, das zum Beispiel beschreibt, wenn Menschen vor einem Anschlag von Terroristen flüchten. Die Katastrophe in Südkorea war aber kein Fall von Panik, sondern ein Fall von Physik.

Wie können wir Menschen davor schützen, überhaupt erst in solche bedrohlichen Situationen zu geraten?

Zum Glück sind solche Katastrophen selten, aber das Problem ist, dass viele kein Gespür dafür haben, dass eine Menschenmasse gefährlich werden kann. Viele quetschen sich zum Beispiel oft noch in eine ohnehin schon viel zu volle U-Bahn. Sie fühlen sich dann vielleicht ein wenig unwohl wegen der Enge, aber sie ahnen gar nicht, dass das lebensgefährlich sein kann. Deswegen ist es auch so wichtig, Menschen über die Gefahren von großen Massen zu informieren, damit sie sie in Zukunft vermeiden können. Jeder Mensch, der nicht Teil des Gedränges ist, reduziert die Dichte der Masse – und damit die Gefahr. Bei Freizeitveranstaltungen und Events stehen aber auch die Veranstalter in der Pflicht, dafür zu sorgen, dass es nicht zu einer Überfüllung kommt. Sie können zum Beispiel Systeme mit Tickets einführen, die nur zu einer festen Uhrzeit gültig sind, um die Zahl der Menschen zu reduzieren.

Von Ben Kendal/RND