„Warten auf die Befreiung“ in Cherson – landeszeitung.de

Velyka Oleksandrivka. Im Erdkundeklassenraum der Schule im südukrainischen Ort Velyka Oleksandrivka geben Überreste einer Weltkarte Rückschlüsse über die Ziele der Besatzer. Russland ist gelb eingefärbt, Soldaten haben die Ukraine mit derselben Farbe übertüncht, ebenso die Grenzen zwischen beiden Ländern. Die Hälfte der Karte mit dem westlichen Teil der Welt ist ganz von der Wand gerissen worden. Anfang März marschierten russische Soldaten in Velyka Oleksandrivka in der weiter heftig umkämpften Region Cherson ein, in der Schule errichteten sie eine Militärbasis. Bei der ukrainischen Gegenoffensive wurden sie am 4. Oktober aus dem Ort vertrieben. Jetzt liegt die Schule in Trümmern.

Auf einer Ukraine-Karte, die an einer Wandtafel in einem anderen Klassenraum hängt, haben Besatzer jene vier ukrainischen Regionen schwarz schraffiert, die der russische Präsident Wladimir Putin kürzlich für annektiert erklärt hat – darin liegt auch Velyka Oleksandrivka. „Tschetschenien“ hat ein Soldat quer darübergeschrieben. Die Besatzungstruppen kamen aus Tschetschenien, der benachbarten Nordkaukasusregion Dagestan und aus Russland.

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Manche Soldaten hinterlassen Entschuldigungen

Am Schrank neben der Tafel klebt ein großer Sticker mit einer Flagge Großbritanniens, Soldaten haben darauf Todeswünsche gekritzelt: „Für Yankees“, „für Angelsachsen“, „für Juden“, „für Euro-Schwule“. Putin begründet den Angriffskrieg unter anderem mit einer „Entnazifizierung“ der Ukraine. Nicht alle Soldaten scheinen allerdings mit der Mission einverstanden zu sein. Gleich auf mehreren Tafeln steht: „Vergebt uns“, die Handschriften deuten darauf hin, dass verschiedene Soldaten diesen Wunsch loswerden wollten. Bei einer dieser Botschaften steht daneben: „Es waren alles Befehle von oben.“

Rund 200 russische Soldaten sind nach ukrainischen Militärangaben in der Schule stationiert gewesen, es wirkt, als wären sie gerade erst abgezogen. In einem Raum liegt noch eine Feldration der russischen Streitkräfte, das Paket enthält Kekse, Marmelade, Auberginenpaste und Kaugummi, außerdem Getränkepulver, Zucker, löslichen Kaffee und Tee. Eine Gasmaske ist zurückgeblieben. Ein Zauberwürfel, Zigaretten, Medikamente, Stiefel, Turnschuhe und Sonnenbrillen sind ebenfalls nicht mitgekommen. Die gigantische Zahl der leeren Bier- und Schnapsflaschen, die die Soldaten in der Schule zurückgelassen haben, lässt erahnen, woher der Vorwurf rührt, die Besatzungstruppen seien häufig betrunken.

In vielen entglasten Fenstern der Schule liegen Sandsäcke. In manchen Klassenräumen haben sich die Russen mit Schulbüchern geholfen, die sie zu Mauern aufgeschichtet haben, um Geschosse aufzuhalten. Granaten haben das Dach abgedeckt, Teile davon wurden durch die Explosionen weit durch die Umgebung geschleudert. In eine Wand haben Soldaten in Versalien „Wagner“ in eine Wand gekratzt, den Namen der berüchtigten russischen Söldnereinheit. In einem anderen Raum liegen noch eine Gasmaske und eine Ausgabe der Militärzeitung „Roter Stern“. Die Zeitung vom 1. April enthält Erfolgsmeldungen aus der russischen Offensive in der Ukraine. Inzwischen sind die Angreifer auf dem Rückzug.

Die Stadt Cherson liegt rund 85 Kilometer südwestlich von Velyka Oleksandrivka. Es ist die einzige Regionalhauptstadt, die die Russen nach Kriegsbeginn am 24. Februar einnehmen konnten. Nach Velyka Oleksandrivka können Journalisten derzeit nur mit Militäreskorte, am Tag des Besuchs schießt die ukrainische Artillerie aus nahegelegenen Stellungen mehrfach Granaten Richtung Südwesten ab. Die Front ist keine zehn Kilometer entfernt.

Angst vor der Rückkehr der Russen

Eine Rückeroberung von Cherson ist bei der ukrainischen Gegenoffensive im Süden des Landes auf absehbare Zeit das wichtigste Ziel. Ein Abzug der russischen Truppen aus der Stadt wäre eine erneute Schmach für Putin in dem von ihm angezettelten Krieg. Velyka Oleksandrivka gehört zu 16 Siedlungen im Verwaltungsbereich (Oblast) Cherson, die die Ukrainer gleich zu Beginn ihrer Gegenoffensive Anfang Oktober zurückerobert haben. Die Zerstörung in der Region zeugt von der Heftigkeit der Gefechte. Häuser liegen in Trümmern, Straßen sind von Einschlaglöchern übersät. Ausgebrannte Panzer und Autowracks säumen die Zufahrtstraße, neben der zwei Kühe verwesen. Auch in der Schulruine wird noch lange Zeit kein Unterricht stattfinden können, wenn überhaupt jemals wieder.

Geschlafen haben die russischen Soldaten im fensterlosen Keller der Schule, der an ein feuchtes, übelriechendes Verlies erinnert. Zusammengeschobene Stühle haben als improvisierte Bettgestelle für Matratzen gedient, auf denen Decken und Kissen liegen. In einem der Räume zeigt die tickende Wanduhr, die die Soldaten an einem Rohr befestigt haben, immer noch die richtige Zeit an. An dem Rohr hängt ein Bild, das wohl eine spärlich bekleidete ägyptische Kleopatra darstellen soll, die sich an einen Löwen schmiegt. Darunter ist das „Z“ als Symbol der Invasionstruppen an die Wand gepinselt – und eine Drohung: „Wir kommen zurück“.

Davor hat Olha Balan am meisten Angst: Dass die Russen tatsächlich eines Tages zurückkehren könnten. Die 44-Jährige wohnt im Haus gegenüber der Schulruine, seit Mai – dem Einschlag der ersten von vielen Artilleriegranaten – lebt die Familie im Keller. Dort hat Balan am 12. Mai mithilfe ihres Ehemannes ein Mädchen zur Welt gebracht. Eine Birne an einer Autobatterie und eine Kerze liefern nur wenig Licht, den Dieselgenerator schaltet die Familie mangels Treibstoff selten ein. Das Baby liegt auf einem Matratzenlager in der Ecke, der dreijährige Sohn spielt in dem dunklen Raum. Auf einem Tisch in dem Kellerraum steht ein Strauß Rosen, daneben eine Schale mit Obst und Keksen. Der Eingang zum Keller von der Garage aus ist bis zur Decke mit Sandsäcken abgesichert.

„Wir hätten die russischen Militärärzte um Hilfe bitten können, aber das wollten wir nicht“, sagt Balan zur Geburt ihrer Tochter. Sie halte den Medizinern zwar zugute, dass sie alten Menschen in Velyka Oleksandrivka geholfen hätten. Die Russen seien aber immer noch Feinde. Die Besatzungstruppen hätten geplündert und sich wie „Vandalen“ verhalten, sagt Olha Balan. „Sie haben Menschen verschleppt und gefoltert.“ Einer der Betroffenen sei ihr Ehemann Serhiy Balan gewesen – ein Polizist.

Hoffen auf die Befreiung

Der 43-Jährige erzählt, die Russen hätten ihn tagelang mit Schlägen und Elektroschocks gequält. Sie hätten wissen wollen, wo die Polizei ihre Waffen versteckt habe, und hätten ihn zur Kollaboration zwingen wollen. „Sie sind Tiere“, sagt Serhiy Balan. „Sie sind Monster.“ Auch er habe Angst vor einer Rückkehr der Russen, vertraue aber auf die ukrainischen Streitkräfte. „Ich bin zuversichtlich, dass Cherson vor Jahresende befreit werden wird.“

Darauf hofft auch Anton, und zwar sehr. Der 26 Jahre alte Ingenieur ist am 8. April mit seiner Ehefrau aus Cherson nach Saporischschja geflohen, die Stadt liegt 230 Kilometer Luftlinie flussaufwärts am Dnipro. Ende September sei seine Ehefrau zurückgekehrt nach Cherson, um ihre Mutter nachzuholen. Wegen der danach angelaufenen Offensive trauten sich jetzt aber beide nicht mehr raus – und seine Frau sei im vierten Monat schwanger.

„Die Lage dort ist sehr schlecht“, sagt Anton, der weder seinen Nachnamen noch sein Foto veröffentlicht sehen möchte, solange seine Ehefrau noch in Cherson festhängt. „Öffentliche Krankenhäuser arbeiten nicht mehr, private Kliniken sind geplündert worden.“ Zu kaufen gebe es fast nichts mehr, und wenn, dann nur zu exorbitanten Preisen. Einige russische Soldaten seien vor den vorrückenden ukrainischen Truppen geflohen, andere bereiteten sich am Stadtrand auf die Verteidigung Chersons vor.

„Die Menschen dort warten auf die Befreiung“, sagt Anton. Wegen der erwarteten Kämpfe hätten die Bewohner sich darauf vorbereitet, in die Keller zu ziehen. Angst hätten vor allem die Kollaborateure, die auf sozialen Medien bereits namentlich angeprangert werden. Ihnen drohe bald der Tag der Abrechnung, sagt Anton. „Von meinem Gefühl her würde ich unterstützen, sie zu lynchen. Aber ich weiß, dass der richtige Weg eigentlich wäre, sie einzusperren.“

Auch Serhiy Kucherov hat Verwandte in der Stadt Cherson, in Velyka Oleksandrivka betreibt der 55-Jährige einen Krämerladen. Dort gibt es Wasser und Saft, Kekse und Schokolade, Kaffee und Tee. Hygieneartikel sind ebenso zu haben wie Katzenfutter oder geschmuggelte Zigaretten. Kucherov hat die Zeit der Besatzung in seinem Heimatort verbracht, in dem vor dem Krieg rund 6500 Menschen lebten, heute sind es vielleicht noch 1000. „Es war sehr schwierig“, sagt er. Mit Blick auf die russischen Truppen fügt der Händler hinzu: „Die angeblich zweitgrößte Armee der Welt ist eine Armee der Barbaren und Mörder.“

Seine Angehörigen in Cherson warteten sehnsüchtig auf die Befreiung der Stadt, sagt Kucherov. „Jeder hat Angst vor Artilleriebeschuss oder Straßenkämpfen.“ Für die Vertreibung der russischen Truppen seien die Menschen aber jederzeit bereit, solche Gefahren hinzunehmen.

Auch er gehe davon aus, dass die Stadt bis Jahresende wieder unter Kontrolle der Ukraine sei – und dass die Russen danach aus allen anderen besetzten Gegenden vertrieben würden. „Wir werden den Krieg definitiv gewinnen“, sagt Kucherov. „Die Ukraine wird immer unabhängig sein, und das sage ich nicht einfach so dahin. Ich glaube fest daran, dass meine Kinder in einer freien europäischen Ukraine leben werden.“

Von Can Merey/RND