Was Deutsch-Iraner bewegt – und was sie heute schon bewegen – landeszeitung.de

Hektisches Flackern, Schüsse und Menschen, die fliehen – diese Bilder von der Teheraner Scharif-Universität gehen Anfang Oktober 2022 um die Welt. Staatliche Sicherheits­kräfte gehen mit massiver Gewalt gegen Studierende und Professoren vor, so berichten es lokale Medien und Blogger. Auf dem Video ist es dunkel. Man sieht Menschen aus einem Gebäude und auf die Straße rennen, wo Autos blinken und langsam fahren. Neda Soltani weiß, wie es ist, der Unterdrückung des iranischen Staats ausgesetzt zu sein. In ihrem früheren Leben arbeitete die Frau mit den grauen Haaren und der klaren Stimme im Englisch-Department der KIAU-Universität in der iranischen Großstadt Karadj. Jetzt hilft sie 4875 Kilometer entfernt an der Berliner Humboldt-Universität Forschenden, die ihre Arbeit nicht ausüben können. Viele von ihnen werden politisch verfolgt. Soltani floh nicht wegen ihrer akademischen Tätigkeit aus dem Iran. Das Regime setzte sie unter Druck, weil Menschen auf der ganzen Welt sie mit einer Toten verwechselten.

Ein Buchstabe Unterschied

2009 werfen viele Iranerinnen und Iraner der Regierung Wahl­betrug vor. Menschen­­massen gehen demonstrieren. Die sogenannte „Grüne Bewegung“ formiert sich. Die Koalition aus Reformern will verhindern, dass der Amts­inhaber Mahmud Ahmadinedschad wieder die Regierung übernimmt. Es ist kein Protest, der sich gegen den Staat richtet. Die Demonstrierenden verlangen lediglich, dass die Regeln des Systems eingehalten werden. Soltani ist damals nicht politisch aktiv, erzählt sie. Sie demonstriert nicht auf der Straße, betreibt keinen Blog und wider­spricht dem Staat nicht öffentlich. Und doch wird sie politisch verfolgt.

Eines der berühmtesten Opfer der 2009er-Proteste war Neda Soltan. Ohne „i“ am Ende des Nachnamens. Sie wurde bei einer Demonstration getötet. Wahrscheinlich von staatlichen Milizen, das lässt sich jedoch nicht mehr sicher rekonstruieren. Presse und Social-Media-User verwechseln sie mit Soltani, die jetzt in Berlin lebt und an der Humboldt-Universität arbeitet. Sie teilen ihr Foto Millionenfach. Das iranische Regime schüchtert Soltani ein. Sie soll öffentlich bekennen, dass es kein Todes­opfer gegeben hat und sie der lebende Beweis dafür ist. „Sie wollten, dass ich sage, ich bin Neda Soltani, ich bin am Leben und alles andere ist Fake News und Propaganda gegen die Islamische Republik“, erklärt sie. Doch sie widersetzt sich. Ihr droht die Todes­strafe. Sie flieht.

„Albtraum der Mullahs“

Die Erfahrung verändert ihre Einstellung zum iranischen Staat grund­legend. „Vorher hatte ich keine politische Neigung“, erzählt sie, „das hat sich verändert, seit ich persönlich attackiert wurde.“ Wenn sie jetzt auf Videos sieht, wie Iranerinnen und Iraner demonstrieren, Kopftücher verbrennen und öffentlich tanzen, bewege sie das sehr. „Dieser junge Mann, der geschlagen wird, das könnte mein Student sein, diese junge Frau, die entführt wird, das könnte meine Schwester sein“, berichtet Soltani. Sie ist stolz auf die Menschen im Iran. Gleich­zeitig sorgt sie sich, weil sie am eigenen Leib erfahren hat, mit welcher Brutalität das Regime gegen die Bevölkerung vorgeht. Wann immer es möglich ist, geht Soltani demonstrieren. Bei einer Kundgebung im Oktober seien sie 120.000 Menschen gewesen. „Das ist der Albtraum der Mullahs“, sagt sie.

Ihre Tochter sollte kein Kopftuch tragen müssen

Roya Tahami ist ungefähr 1,60 Meter groß und arbeitet als Mathe­lehrerin an einer Berliner Waldorf­schule. Sie verließ vor über dreißig Jahren aus einem Grund den Iran, der auch jetzt tausende Menschen auf die Straße treibt. Ihre Tochter besuchte gerade die erste Klasse. Für die Schülerin herrschte Kopftuch­pflicht. Doch das Mädchen wollte ihre Haare nicht bedecken. „Da habe ich mir überlegt, das hier ist nicht mehr meine Heimat, ich muss meine Kinder in Freiheit erziehen“, berichtet sie. Der endgültige Entschluss fiel, als der Staat ihr den Beruf verbieten wollte. „Sie warfen mir vor, in der Cafeteria mit fremden Männern gesprochen zu haben“, erzählt sie.

Tahami ist zu Hause in Deutschland, als ihre Tochter sie anruft, um ihr von Jina Aminis Tod zu erzählen. Die junge Frau wurde von der Sitten­polizei inhaftiert, weil ihr Kopftuch angeblich zu locker saß und starb anschließend. Die Behörden machten gesundheitliche Probleme verantwortlich, doch ihre Familie bestritt jede Vorerkrankung. „Da war ein großes Gefühl der Trauer und der Hilflosigkeit“, erzählt Tahami. Sie geht mit ihrer gesamten Familie, die aus ganz Deutschland anreist, demonstrieren. Sie lacht, wenn sie davon erzählt. Eine Freundin aus dem Iran erfährt von den Kundgebungen in Berlin. „Sie hat mir erzählt, wie froh sie ist, dass wir hier protestieren“, so Tahami.

Politikwissenschaftler: Vieles wüssten wir ohne die Diaspora nicht

Laut dem Politik­wissenschaftler Tareq Sydiq sind viele Menschen, die vor politischer Verfolgung fliehen, auch im Exil aktiv. Sydiq untersucht Protest­bewegungen, unter anderem im Iran, wo er ein Jahr zum Forschen verbrachte. Iraner im Ausland haben auch mehr Möglichkeiten sich politisch einzubringen, als die Menschen vor Ort. „Exil-Iranerinnen können viel aussprechen, was innerhalb des Irans nicht sagbar ist“, erklärt Sydiq.

Im Land herrscht Zensur. Während der aktuellen Proteste drosselt die Regierung das Internet und immer wieder werden Menschen willkürlich verhaftet. Ganz zu schweigen von den zahlreichen Hinrichtungen. Amnesty International spricht von „massiver Unterdrückung der Meinungs- und Versammlungs­freiheit. Iraner im Ausland können deswegen wie ein Lautsprecher für die Geschehnisse vor Ort sein. Sydiq kommentiert: „Vieles von dem, was wir über die aktuelle Protest­bewegung wissen, wüssten wir ohne die Diaspora nicht.“ Der Begriff „Diaspora“ bezeichnet Gemeinschaften, die außerhalb ihrer ursprünglichen Heimat leben. Auch Menschen deren Eltern aus einem anderen Land kommen, können Teil einer Diaspora sein.

„Als wäre man aus Deutschland heraus­katapultiert“

Jemand, der besonders prominent auf die Geschehnisse im Iran aufmerksam macht, ist der Schriftsteller Navid Kermani. Der promovierte Orientalist ist in der Bundes­republik geboren und hat die iranische und die deutsche Staats­bürgerschaft. Er ist regelmäßig in Talkshows zu Gast und wurde 2016 als möglicher Kandidat für das Amt des Bundes­präsidenten gehandelt. Im ZDF sprach er sich für eine stärkere Unterstützung der Proteste aus. Aktuell hat er regelmäßig Kontakt zu Verwandten und Freunden im Iran, bleibt dabei aber immer vorsichtig. „Ich führe keine dezidiert politischen Gespräche, aber klar schicken die Links und Videos von den Protesten“, erzählt er. Die Bilder setzten ihm zu: „Das ist natürlich fürchterlich, man muss sich abgewöhnen, diese Videos am Abend zu gucken, weil man sonst nicht mehr einschlafen kann.“ Man müsse wissen, dass jeden Tag im Iran scharf auf friedliche Demonstrierende geschossen wird. Oft fühle er sich wie in einer Parallelwelt. „Ich bin eigentlich mehr mit den Gedanken im Iran, es ist, als wäre man aus Deutschland heraus­katapultiert“, erzählt der Schrift­steller.

Omid Nouripour ist Bundes­vorsitzender der Grünen. Auch er stammt aus dem Iran und forderte zuletzt mehr Unterstützung für die Bewegung. Gegenüber dem RND sagte er: „Unsere Aufgabe ist es, ihre Stimme außerhalb des Irans zu sein und deutlich zu machen, dass dieses unter­drückerische Regime keine Zukunft hat.“

„Tiefe Enttäuschung“ über deutsche Regierung

Auch Neda Soltani ist regelmäßig mit den Menschen vor Ort in Kontakt, zum Beispiel mit ihren ehemaligen Studierenden. „Da ist ein Paar, das gerade ein Baby bekommen hat, und dann wurde der Mann verhaftet“, berichtet sie, „sie wussten lange nicht, wo die Sicherheits­kräfte ihn hingebracht haben.“ Noch immer sei der Mann inhaftiert. Manchmal ist Soltani erschöpft. Sie ist allein­erziehende Mutter eines kleinen Kindes und arbeitet Vollzeit. Doch die Demos, die Wut auf der Straße und die Gespräche mit Freunden geben ihr Kraft, erzählt sie. „Manchmal denke ich, ich bin so müde, doch dann sage ich mir, das darf nicht sein, wenn Menschen im Iran ihr Leben riskieren und auf die Straße gehen“, sagt sie. Und fügt hinzu: „Da ist keine Trauer, ich bin verdammt stolz und verdammt wütend.“ Wütend ist sie auch über die deutsche Bundes­regierung, die ihrer Meinung nach viel zu wenig tut. Sie will, dass die Ampel­koalition umfang­reichere und härtere Sanktionen einsetzt, die die gesamte Führungselite betreffen.

Iranischer Staat verfolgt auch in Deutschland

Diese Elite agiert auch in Europa. „Es gibt eine sehr lange dokumentierte Liste autokratischer Staaten, die Oppositions­bewegungen auch in Deutschland verfolgen“, ordnet Politikwissenschaftler Sydiq ein. Besonders prominent ist das sogenannte Mykonos-Attentat, das 1992 in Berlin stattfand. Damals ermordete ein Mitarbeiter des iranischen Geheim­diensts den General­sekretär einer kurdisch-iranischen Partei. Das Berliner Kammer­gericht verurteilte ihn zu lebenslanger Haft, er wurde jedoch vorzeitig entlassen. Die Deutsche Welle titelte „Auftrags­killer der Mullahs in Berlin“. „Das ist eine Einschüchterung und Bedrohungslage, die schon seit Jahren existiert“, so Sydiq. Der iranische Staat setze auch diese Ressourcen ein, weil es in den Iranerinnen und Iranern im Ausland eine große Bedrohung sieht. „Dass in dieser relativen Sicherheit Dinge dokumentiert werden können, ist natürlich eine Gefahr für das Regime“, sagt Sydiq. „Die Aktivitäten der Diaspora entziehen sich seiner Kontrolle und die versucht es dann gewaltsam wiederherzustellen“, fährt er fort.

Dieses Risikos ist sich Soltani bewusst. Am vergangenen Samstag war sie auf einer Demonstration in Berlin. An einer Hausecke stand ein Mann und filmte sie und ihre Freundinnen und Freunde ganz offensichtlich. Sie lief zu einem Polizisten und beschwerte sich, doch der sagte, er könne nichts dagegen tun. Als der Mann ihr Gespräch mit dem Polizisten mitbekam, ist er plötzlich verschwunden, erzählt Soltani. Sie hat von einer Attacke auf Aktivisten gehört, die vor dem Islamischen Zentrum in Hamburg protestierten. Einer der beiden sei im Krankenhaus gelandet. Der Verfassungs­schutz beobachtet die Moschee, der Iran finanziert sie. Das Risiko wachse stetig, erklärt Soltani. Doch sie lässt sich nicht entmutigen: „Die Mullahs wollen uns einschüchtern, aber wir lassen uns nicht einschüchtern.“

Von Milena Wurmstädt/RND