Hannover. In der deutschsprachigen Youtube-Szene wird neuerdings viel gebrüllt. Mexify zum Beispiel tut das. johannesmlz auch. LewinRay auch. SYou auch – und rewinside zumindest ein bisschen. Und alle genannten Youtuber haben noch etwas gemeinsam: Sie lieben neuerdings Versteckspiele.
Mexify (1,67 Millionen Follower) spielt in seinen Videos liebend gern „Hide & Seek“ – etwa auf der Gamescom, auf einem Pokémon-Fest oder in der Villa des Youtubers Julien Bam. Youtuber rewinside (3,3 Millionen Follower) lässt Kandidatinnen und Kandidaten in „Hide & Seek“-Videos im Kinderspielland, im Fußballstadion und im Ikea antreten. Newcomer johannesmlz (145.000 Follower) hat sich als Versteckkulisse eine Villa auf Mallorca ausgesucht.
Bemerkenswert: Nicht nur die Inhalte der Videos ähneln sich – sie sind auch nahezu identisch aufgebaut. Alle beginnen mit einem lauten, schnell geschnittenen Vorspann, in dem der jeweilige Youtuber untermalt von Spannungsmusik in die Kamera schreit. Dazu werden große Schriften und Weißblendeffekte, explosionsartige Animationen und jede Menge Sounds eingeblendet. Etwa ein lautes Kassengeräusch, zu dem hohe Geldbeträge ins Bild fliegen.
Geld, Geld, Geld
Apropos hohe Geldbeträge: Auch das ist, was alle genannten Youtuber eint. Mexify verspricht Gewinnerinnen und Gewinnern seiner Versteckspiele wahlweise 1000, manchmal auch 10.000 Euro. LewinRay (446.000 Follower) verschenkt 2000 Euro, die er spendabel um sich wirft. Abgesehen davon spielt er sein „Hide & Seek“ betont in einer „5-Millionen-Euro-Villa“. Bei SYou (749.000 Follower) ist es laut Videotitel sogar eine „4.900.000$ RIESEN VILLA!“.
Fabian Baggeler, die Elevator Boys oder Rick Azas – die Liste an Youtubern, die das Versteckspielen für sich entdeckt haben, ließe sich endlos fortsetzen. Selbst die Baumarktkette Obi lässt in einem Video Influencerinnen und Influencer zum „Verstecken EXTREM“ in einer Filiale antreten. Das Video beginnt wie alle anderen Videos auch: Mit einem laut brüllenden Influencer, schnellen Schnitten und vielen Soundeffekten.
Man könnte sagen, die deutschsprachige Youtube-Szene wird geradezu geflutet von den immer gleichen Spielen, von den immer gleichen Videos, die sich oft bis ins kleinste Detail ähneln, die immer ähnlich gedreht, geschnitten und gebrüllt sind. Wie ist diese Entwicklung zu erklären?
Vorbild: MrBeast
Die Antwort findet sich rund 7000 Kilometer Luftlinie von den deutschen Youtube-Hochburgen Berlin, Köln oder Aachen entfernt – in North Carolina. Hier wohnt ein Mann mit dem unscheinbaren Namen Jimmy Donaldson – Fans besser bekannt unter dem Künstlernamen MrBeast. Donaldson ist nicht irgendein Youtuber: Er ist mit seinen 106 Millionen Abonnentinnen und Abonnenten der zweigrößte der Welt. Nur der Schwede PewDiePie mit 111 Millionen Anhängern und Anhängerinnen ist noch größer – in absehbarer Zeit dürfte Donaldson ihn überholt haben.
MrBeast hat nicht nur viele Followerinnen und Follower – er hat auch sehr viel Geld. Das US-Magazin „Forbes“ schätzte die Einnahmen des 24-Jährigen durch seinen Youtube-Kanal im Jahr 2021 auf stattliche 54 Millionen US-Dollar.
Das macht MrBeast zum erfolgreichsten Youtuber überhaupt – und auch im allgemeinen Vergleich der bestverdienenden Promis der Entertainmentbranche steht Donaldson gut da. In der „Celebrity 100″ von „Forbes“ schaffte es der Youtuber in die Top 40, noch vor Stars wie Angelina Jolie und den K-Pop-Pionieren von BTS.
Absurd hohe Preisgelder
Was macht MrBeast so besonders? Es sind seine aufwendig produzierten Videos, die sich von den klassischen Youtube-Inhalten enorm abheben. Donaldsons Produktionen sind keine Vlogs, keine Pranks, keine Challenges vor dem Ikea-Regal. Es sind Selbstversuche und insbesondere Kinderspiele, umfunktioniert zu spektakulären Gameshows, die in riesigen aufwendig gestalteten Sets ausgetragen werden. Darunter etwa, genau: „Hide & Seek“.
Innerhalb seiner Shows verschenkt Donaldson absurd hohe Preisgelder an Kandidatinnen und Kandidaten, manchmal bis zu 500.000 US-Dollar. Auch in seinen Selbstversuchvideos haut der Youtuber verlässlich Tausende und Abertausende Dollar auf den Kopf. Mit diesen Inhalten hat der US-Amerikaner ein ganz eigenes Genre auf der Plattform etabliert, dass noch dazu enorm erfolgreich ist. Ein typisches MrBeast-Video wird zwischen 50 und 390 Millionen Mal angeklickt.
Aufmerksamkeit auch außerhalb der Szene erhielt Donaldson vor allem im vergangenen Jahr, als er Kandidaten in selbstgebauten „Squid Game“-Sets gegeneinander antreten ließ. Während Fans das Projekt feierten, wurde es andernorts auch kritisch besprochen: Ausgerechnet die kapitalismuskritische südkoreanische Netflix-Serie nutzte der stinkreiche Donaldson als Aufhänger, um in einem Studioset erneut mit Geld um sich zu werfen.
Schnitte, Zooms und Kamerafahrten
Auch die stilistischen Mittel eines MrBeast-Videos sind besonders. Jedes einzelne beginnt mit dem lauten Gebrüll Donaldsons, schnellen Schnitten, Zoom- und Blendeffekten, Super-Zeitraffern, Drohnenfahrten und riesigen Comicschriften, die Geldbeträge einblenden – alles unterlegt von dramatischer Musik. Kaum jemand auf der Plattform erreicht einen so hohen Produktionsstandard allein schon mit dem Vorspann eines Videos.
Genauso geht es dann auch weiter. Es gelingt kaum, den Blick von einem MrBeast-Video abzuwenden, denn nahezu jede Sekunde, manchmal sogar öfter, passiert etwas Neues.
Immer wieder werden große Zahlen eingeblendet, mögliche Momente der Stille werden umgehend durch lustige Sounds oder Kamerazooms im Keim erstickt.
Geheimrezept Zuschauerbindung
Diese Art des Videodrehs und ‑schnitts ist genau so gewollt. Denn sie zielt auf die wichtigste Währung ab, die für Youtube-Videos existiert. Auf englisch wird diese Währung „Retention“ genannt – auf deutsch lässt sich dieses grob mit „Zuschauerbindung“ übersetzen.
Ein Video auf Youtube generiert immer dann besonders viel Umsatz, wenn möglichst viele Zuschauerinnen und Zuschauer bis zum Ende des Videos dranbleiben – und möglichst wenige abschalten. Dies ist bedingt durch den Youtube-Algorithmus: Dieser „belohnt“ solche Videos explizit. Hat ein Video eine gute „Retention-Rate“, wird es einem noch viel größeren Publikum angezeigt, etwa auf der Youtube-Startseite.
Spielt ein Videoproduzent oder eine -produzentin nach den Regeln der Plattform, ergibt sich dadurch eine Win-win-Situation für beide Seiten: Videos mit hoher Zuschauerbindung und geringer Absprungrate werden mit hoher Reichweite belohnt – und Youtube gelingt es damit, Nutzerinnen und Nutzer möglichst lange auf der eigenen Plattform zu halten. Am Ende machen beide einen Haufen Geld.
Bloß nicht wegklicken
Jimmy Donaldson alias MrBeast hat genau dieses System perfektioniert – man könnte auch sagen: gehackt.
In einem Interview mit den US-Podcastern Colin und Samir erklärte Donaldson im vergangenen Jahr, er habe die Youtube-Statistiken geradezu „studiert“. Das alles entscheidende Ziel: Der Durchschnitt der Zuschauerinnen und Zuschauer soll mindestens 70 Prozent des Videos ansehen. „Wenn du weniger als 70 Prozent hast, finde einen Weg, das zu ändern“, rät Donaldson.
Die ersten Sekunden, so der Youtuber, seien dabei die wichtigsten. Das erklärt die schnellen Schnitte, Zooms, Kamerafahrten und Soundeffekte – und das Gebrüll. Anschließend versuche man mit der Erzählweise und zahlreichen Nebensträngen die Absprungrate gering zu halten.
Kein Platz für Emotionen
In einem MrBeast-Video mit dem Titel „Last to Leave Circle Wins 500.000″ („Der letzte, der den Kreis verlässt, gewinnt 500.000″) lässt sich dieses Konzept gut beobachten. Kandidatinnen und Kandidaten verbringen zum Teil mehrere Wochen in der Spielhalle innerhalb des Kreises, um das hohe Preisgeld mit nach Hause zu nehmen.
Das Team des Youtubers piesackt sie immer wieder mit überraschenden Herausforderungen – oder überreicht ihnen unerwartete Geldgeschenke. All das passiert in rasender Geschwindigkeit: Das mehrwöchige Experiment wurde zu einem 20-minütigen Youtube-Video zusammengestaucht.
Dieser enorm schnelle, hektische Schnitt hat aber noch einen anderen Effekt: Er bereinigt das Video von jeder Art von Emotionen oder Menschlichkeit.
Tränen klicken nicht
Im Verlauf des Spiels kommt es zum Teil zu rührenden Momenten. Eine Frau bricht nach dem Gewinn einer hohen Geldsumme in Tränen aus. Sie werde das Geld verwenden, um endlich ihre Rechnungen zu bezahlen, fährt sie mit brüchiger Stimme fort. Näheres über die Frau erfährt das Publikum aber nicht: Gerade einmal zwei Sekunden werden der emotionalen Szene eingeräumt, ehe Showmoderator Donaldson, nahezu roboterartig, mit dem Tagesgeschäft fortfährt: „Damit habe ich nicht gerechnet, ich weine fast“, sagt er. In seinem Gesicht ist davon allerdings nichts zu erkennen.
In einem Spiel bilden Kandidatinnen ein Team, um anderen Kandidaten zu helfen. MrBeast belohnt die Hilfsbereitschaft mit einem Haufen Geld. Allein aus dieser Begebenheit hätte man eine ganze Personality-Story drehen können – MrBeast räumt diesen kurzen Momenten der Menschlichkeit gerade einmal wenige Sekunden ein.
Selbst ein Heiratsantrag mitten auf dem Spielfeld bringt Showmoderator Donaldson nicht aus dem Konzept. „Habt ihr das kommen sehen?“, fragt er, beinahe wie aufgesagt, in die Kamera. Er gratuliert zügig dem verlobten Pärchen und beschenkt sie mit einem Koffer von 10.000 Dollar – ehe der nächste Schnitt folgt.
Die „Beastifizierung“ ist ein Problem
Auf die Youtube-Szene hat diese Art, Videos zu produzieren, unweigerlich einen Effekt: Sie zieht unzählige Nachahmer an sich. Es sind nicht nur deutsche Youtuber wie Mexify, rewinside oder der Obi-Baumarkt, die das Konzept der MrBeast-Videos inzwischen bis ins kleinste Detail übernommen haben. Ob Brent Rivera, Matthew Beam, Jake Carlini oder Fidias: Auf der ganzen Welt transformieren Youtuber ihre Inhalte zu lauten, schrillen Game- und Selbstversuchformaten, in denen die eigene Persönlichkeit nur wenig Platz findet.
Der Satire-Youtuber Pinely sieht in der „Beastifizierung“ der Inhalte ein wachsendes Problem. In einem 45-minütigen Videoessay kritisiert der 23-Jährige, Youtube sei zu einer Art „Kabelfernsehen“ verkommen. Alles, wofür die Plattform mal gestanden habe, nämlich Persönlichkeit, gerate mit diesen Formaten immer mehr in Vergessenheit.
Diese Videos seien „stinklangweilig, algorithmisch, seelenlos, immer nach derselben Formel“, sagt Pinely. „Aufwändige Sets ersetzen echte Unterhaltung. Jeder verhält sich wie dieselbe Person.“ MrBeast gelte in der Szene als eine Art Jesus. In Interviews verrate er seine Erfolgsformeln, andere Youtuber würden diese dann im Detail kopieren – ohne auch noch einen Funken eigene Kreativität in das eigene Werk zu stecken.
„Wie ein von Youtube gemachter Roboter“
Das Erfolg von MrBeast und seinen Nachahmern sei, dass sie völlig austauschbar seien. Man könne sie kaum noch charakterisieren: Alle seien laut und alle würden mit Geld um sich werfen – das war’s.
Das wiederum habe Ähnlichkeit mit Game-Show-Moderatoren im Fernsehen. „Es sind keine echten Persönlichkeiten, weil Persönlichkeiten kontrovers sein können.“ Also agiere man einfach wie ein „von Youtube gemachter Roboter“.
„Wo ist noch der Unterschied zum TV? Je öfter ich diese riesigen, aufwendigen Studiosets sehe, desto weniger interessiert es mich. Der Grund, der Youtube spannend machte, ist doch gerade, dass es nicht TV ist. Dass es mir ein persönliches Gefühl gegeben hat.“
MrBeast-Kopien scheitern kläglich
Was Kritikerinnen und Kritiker wie Pinely freuen dürfte: Gleich mehrere Youtuber haben ihre MrBeast-Kopien inzwischen wieder eingestellt. Der Reisevlogger Christian LeBlanc etwa hatte versucht, seinen Youtube-Kanal in eine Reise-Gameshow zu verwandeln – und scheiterte kläglich. Kaum eine Zuschauerin, kaum ein Zuschauer wollte das aufwendig produzierte Format mit seinen hohen Preisgeldern sehen.
In der deutschen Youtube-Szene scheitern die MrBeast-Kopien augenscheinlich langfristig am Geld. Der Youtuber rewinside erklärte kürzlich in einem Video, die Produktion eines „Hide & Seek“-Videos rentiere sich kaum. Er wolle künftig wieder vermehrt auf „kleinere, simplere“ Formate setzen.
Abgesehen davon gibt es zu jedem erfolgreichen Hype bekanntlich auch eine Gegenbewegung. Der US-Youtuber Ryan Trahan aus Texas hatte in diesem Sommer das MrBeast-Erfolgsrezept einfach umgedreht. Statt mit Geld um sich zu werfen, reiste der 24-Jährige nur mithilfe eines einzigen Pennys quer durch die USA. Der Clou der 30-teiligen Serie: Mit Hilfe von kleinen Jobs und Tauschgeschäften musste Trahan seine Fortbewegung finanzieren, etwa Bustickets oder Mietwagen.
Ryan Trahan: erfrischend anders
Das Format war erstaunlich erfolgreich. Insbesondere auch deshalb, weil es nicht von schnellen Schnitten, Effekten, großen Sets und Geld lebte, sondern von der sympathischen tollpatschigen Art Trahans, der mit seinem Scheitern und Aufstehen, mit den kleinen Begegnungen auf seiner Reise das Format zu großem Entertainment machte.
Könnte die Serie der Plattform einen neuen Kreativitätsschub verleihen?
Wohl kaum. Die ersten deutschsprachigen Youtuber haben längst begonnen, Trahan im Detail zu kopieren – etwa der österreichische Newcomer brani (knapp 50.000 Follower). Ganze Handlungsstränge, ganze Sätze und selbst die Vorschaubilder der Videos wurden fast eins zu eins kopiert. Mit den Videos ist der Youtuber ziemlich erfolgreich – jede Episode hat Aufrufzahlen im sechsstelligen Bereich. Eine neue Flut der immer gleichen Inhalte ist also bereits in Sichtweite.
Von Matthias Schwarzer/RND