Wie sich Holocaust-Überlebende unsterblich machen – landeszeitung.de

Berlin. Ib Katznelson verdankt sein Leben zwei tschechischen Frauen im KZ Ravensbrück. Sie bewahrten den Weihnachten 1943 an Diphterie erkrankten zweijährigen Juden vor der Deportation nach Auschwitz. Eigentlich hatte ihn der berüchtigten SS-Arzt Percival Treite bereits auf die Transportliste für insgesamt 800 Menschen gesetzt.

Sie alle kamen in den Gaskammern um. Ib aber überlebte mit seiner Mutter Karen das Konzentrationslager Ravensbrück und danach auch noch das KZ Theresienstadt. Der Däne ist mit 81 Jahren einer der jüngsten Holocaust-Überlebenden.

Katznelson erfuhr erst sehr spät vom eigenen Schicksal in Kindertagen. Er begann vor ungefähr zwölf Jahren intensiv zu recherchieren und schrieb dann ein Buch über sich und die Holocaust-Geschichte seiner Familie. 2017 erschien „Let him go“.

„Ich weiß, was auf dem Spiel steht“

Als Zeitzeuge ist Katznelson seitdem aktiver als es seiner Familie – er hat drei Kinder und neun Enkelkinder – lieb ist, sagt er lächelnd. Er hält Vorträge, steht im Mittelpunkt von Zoom-Meetings mit Schulklassen, er reist und berichtet.

Als über 80-Jähriger wisse er, was auf dem Spiel steht, so Ib Katznelson. „Ich bin mir bewusst, dass diese Möglichkeit dem Ende zugeht, da wir Überlebenden immer weniger werden.“

In Israel leben derzeit noch etwas mehr als 165.000 Überlebende. 90 Prozent sind über 80 Jahre alt. Weltweit, haben Experten errechnet, sterben täglich etwa 30 Menschen, die als Augenzeugen und Opfer vom Holocaust berichten können.

Zeitzeugengespräche gehören erst seit wenigen Jahrzehnten zur deutschen Erinnerungskultur. Holocaust-Überlebende erzählen dabei ihre Geschichten in Klassenzimmern, sie berichten in Dokumentationen über das Wegsehen ihrer Nachbarn oder die uneigennützige Hilfe von Fremden. Sie halten – vorwiegend an Gedenktagen – bewegende Reden im Bundestag oder in Landesparlamenten.

Schlussstrich ziehen?

Viele, so scheint es manchmal, leben ein langes Leben, weil sie eine Mission haben: davon zu erzählen, was war. Und weil sie wissen, dass Menschen vergesslich sind.

Die Shoa, der nationalsozialistische Völkermord an bis zu 6,3 Millionen europäischen Juden während des Zweiten Weltkriegs, ist in ihrer Gesamtheit zu groß, zu monströs, als dass der Einzelne sie verstehen kann. Auf der anderen Seite gibt es seit Ende des Zweiten Weltkriegs Kräfte, die uns weismachen wollen, unter dieses historische Kapitel gehöre nun aber endlich ein Schlussstrich.

Also: Was machen wir in Zukunft ohne Zeitzeugen, die uns beim Erzählen in die Augen sehen? Denen wir Fragen stellen können?

Die Archive sind gut gefüllt. Allein die Internationale Gedenk- und Bildungsgedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem verzeichnet in ihrer seit 2004 im Netz nutzbaren zentralen Datenbank die Namen von mehr als viereinhalb Millionen Holocaust-Opfern. Das Ziel: den Namen jedes einzelnen Opfers aufzuspüren und dessen Lebensgeschichte zu rekonstruieren.

Das 360-Grad-Studio

Auch in Europa und in den USA widmen sich Ermittler und Forscher den Schicksalen der NS-Opfer in Gerichtsprozessen, in Archiven, in Schulen und Hörsälen. Über allem schwebt nicht allein die Frage, was bleibt, wenn die letzten Überlebenden gestorben sind. Es werden ebenso Antworten gesucht, wie die Generation Z – also diejenigen, die mit dem Smartphone groß werden – sensibel gegenüber der großen Katastrophe des 20. Jahrhundert bleibt.

Ib Katznelson glaubt, einen guten Weg gefunden zu haben.

An einem warmen Tag Anfang September nimmt der Kopenhagener in der Filmstadt Potsdam-Babelsberg Platz auf einem Hocker in einem komplett weißen Studio. Aus den runden Wänden ragen insgesamt 40 Paare hochauflösender Objektive, denen offenbar nichts in dieser Kugel entgehen soll. An der offenen Decke sind unzählige Mikrofone und Lautsprecher. Spezialscheinwerfer leuchten Katznelsons Körper nahezu komplett aus.

Gemütlich ist es hier nicht.

Drei Terrabyte pro Minute

Während Katznelson eine Stunde lang über die Zeit in Ravensbrück und Theresienstadt erzählt, speichern Datenträger die von den Kameras und Mikrofonen eingefangenen Bilder und Töne in ungeheurer Menge ab – Bit für Bit. Bis zu drei Terrabyte Rohdaten werden pro Minute aufgezeichnet.

Aus diesen Daten des echten Ib Katznelson wird später im sogenannten volumetrischen Verfahren der virtuelle Ib Katznelson dreidimensional modelliert. Er kann dann – durch eine VR(Virtual Reality)-Brille betrachtet – in 3-D im historischen Kontext seiner Erinnerungen auftauchen, also dort, wo seine Erzählung spielt. Katznelson wirkt in 3-D lebensecht und emotional eindringlich.

Was in diesem europaweit einmaligen 360-Grad-Studio der Firma Volucap technisch möglich ist, ist im Zukunftsthriller „The Matrix Resurrections“ von Kultregisseurin Lana Wachowski zu besichtigen. Ib Katznelson sagt, er sei sehr an neuen Technologien interessiert. „Darum waren die Aufnahmen für mich aufregend.“

Ethische Gatekeeper

Der Däne ist einer von zehn Überlebenden, die im vom Land Brandenburg gefördertem Projekt von Volucap und der Filmuniversität Babelsberg „Konrad Wolf“ jeweils eine Stunde als Zeitzeugen berichten. Unter ihnen waren auch die unermüdliche Margot Friedländer (100), Kurt Hillmann (89), Inge Auerbacher (87) und Charlotte Knobloch (90).

Regisseur Christian Zipfel, der die Überlebenden von außerhalb des Studios mit seinen Fragen durch die Stunde Zeitzeugenschaft führt, hat die nähere und ferne Zukunft im Blick. „Wir wissen nicht, wie in vielen Jahren Erinnerungskultur funktioniert. Darum ist es jetzt dringlich, Überlebende zu befragen und die Rohdaten zu speichern. In 30 Jahren und mehr kann man damit dann mit viel besseren Algorithmen als heute arbeiten.“

Theoretisch könnte man Ib Katznelson und die anderen Überlebenden per VR-Brille zu sich ins Wohnzimmer setzen oder sie mit ins Schwimmbad aufs Sprungbrett nehmen, sagen Skeptiker solcher Unternehmungen. Regisseur Zipfel sieht sich und das Team von Filmuniversität und Volucap deshalb als „ethische Gatekeeper“. Die Protagonisten dürften niemals aus dem historischen Kontext getrennt werden.

Generation Z ist interessiert

Fakt ist, die Generation der 16- bis 25-Jährigen interessiert sich deutlich mehr für die NS-Zeit als die Generation ihrer Eltern. Das ist das Ergebnis einer großen Studie des Rheingold-Institut im Auftrag der Arolsen Archives aus diesem Jahr.

Drei wichtige Erkenntnisse: Der Bezug zur Gegenwart besitzt eine sehr hohe Relevanz für die Befragten, außerdem wünschen sie sich eine konstruktive und zeitgemäße Auseinandersetzung mit dem Einblick in konkrete Lebenswirklichkeiten sowie die Verschmelzung digitaler und analoger Angebote mit leicht verständlichen Informationen.

Rund 500 Kilometer südwestlich von Potsdam hatten schon viele Münchner Schulklassen der Oberstufe ein Rendezvous mit dem Schriftsteller Abba Naor. Der 94-Jährige erscheint dazu gern im blaugrauen Anzug, blauer Krawatte sowie blank geputzten braunen Schuhen – und sitzt bequem in einem roten Ledersessel.

„Haben Sie Hitler getroffen“

Das Treffen ist allerdings virtuell, denn Naor wirkt nur lebensecht, wenn man ihn durch eine einfache 3-D-Brille ansieht. Der Clou: die Schüler können dem Mann, der als Jugendlicher die KZ Stutthof und Dachau überlebte, Fragen stellen. Gern zitiertes Beispiel: „Haben Sie Hitler getroffen?“ Der virtuelle Abba Naor erwidert stoisch: „Nein, habe ich nicht. Hätte ich ihn getroffen, hätte ich ihn erwürgt.“

Sind es solche Antworten, vor denen Skeptiker warnen?

Naor ist Partner eines anderen virtuellen Erinnerungsprojekts, das wie die Potsdamer Befragungen vornehmlich in der Bildungsarbeit eingesetzt werden soll. Es heißt „Lernen mit digitalen Zeugnissen“ (LediZ) und entstand in der Zusammenarbeit von Ludwig-Maximilian-Universität München (LMU) und des Leibniz-Rechenzentrums der Bayerischen Akademie der Wissenschaften.

1000 Fragen

Die Fachleute mögen den Begriff „Hologramm“ nicht, er beschreibt das Ergebnis jedoch recht gut. Zur Erstellung wurden Abba Naor im Laufe einer Woche in einem Spezialstudio in England rund 1000 Fragen gestellt und bei der Beantwortung von zwei Kameras stereoskopisch gefilmt. Somit können die Aufzeichnungen räumlich visualisiert werden. Anschließend trainierten die beteiligten Wissenschaftler das Hologramm mit Hilfe einer Spracherkennungssoftware.

Das Ergebnis ist verblüffend, nicht wenige Schüler bezeichnen es als cool: Der virtuelle Naor kann inzwischen bis zu 90 Prozent der gestellten Fragen beantworten. Die künstliche Intelligenz hat dafür bereits 40.000 Antwortvarianten auf die 1000 Fragen gefunden. Kann der virtuelle Zeitzeuge nicht antworten, weil er die Frage nicht erkennt oder sie nicht versteht, schweigt er – und zupft sich am Ärmel.

Zweifellos hat diese Art von Zeitzeugenbefragung auch Unterhaltungscharakter, doch vermittelt sie auch Geschichte?

Die Projektkoordinatoren, die LMU-Professoren Anja Ballis und Markus Gloe, nicken. „Es ist wichtig“, sagt der Politik- und Sozialwissenschaftler Gloe, „dabei den Zeitzeugen als eine Quelle von vielen einzuordnen. Es geht bei der Befragung nicht um historische Fakten, die müssen parallel vermittelt werden.“

Eigene Erfahrungen gespiegelt

Anja Ballis, die den Lehrstuhl für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur leitet, berichtet, dass die Schüler von Zeitzeugen wie Abba Naor vor allem etwas über das Familienleben und den Umgang mit Verlust wissen wollen. „Wahrscheinlich“, vermutet die Professorin, „spiegeln sich hier eigene Erfahrungen.“ Ballis hat auch beobachtet, dass viele Schüler oder Studenten unbefangen in die Zeitzeugenbefragung gehen. „Das Setting ist ja fast wie beim Besuch eines 3-D-Kinofilms. Sie rechnen kaum damit, dass es sie dann so emotional berührt.“

Noa Mkayton, Bildungsdirektorin in Yad Vashem, beobachtet diese Entwicklungen aufmerksam. „Einerseits muss die Geschichte authentisch vermittelt werden, andererseits aber auch für alle Lernenden relevant sein“, so formuliert sie den Anspruch.

Dessen Erfüllung wird erschwert durch wachsenden Antisemitismus und sinkende Hemmschwellen. „Antisemitismus verbreitet sich durch die sozialen Medien heute anders als vor ein bis zwei Jahrzehnten, dementsprechend muss man ganz spezielles Lernmaterial anbieten, das genau dieses Phänomen behandelt“, so Mkayton. „Lehrer verspüren heute eine große Unsicherheit, das Thema Antisemitismus in seiner derzeitigen Form anzusprechen.“

Social Media zur Aufklärung

Künstler oder Überlebende drehen jedoch zunehmend den Spieß der Antisemiten im Netz um, indem sie selbst Social-Media-Plattformen für die Bildungs- und Aufklärungsarbeit nutzen.

Viel Lob erhielt Beispielsweise das Instagram-Projekt @ichbinsophiescholl von SWR und BR, das die letzten zehn Monate der jungen Widerstandskämpferin nachstellt.

Der israelische Regisseur Mati Kochavi zeigte 2019 mit „Evastories“ auf Instagram eine 70-folgige Webserie über das Leben der Ungarin Eva Heyman, die als 13-Jährige in Auschwitz ermordet wurde.

Die 98-jährige Holocaust-Überlebende Lily Ebert und ihr 18-jähriger Urenkel Dov Forman sind bei der beliebten Plattform Tiktok unterwegs und sprechen darüber, was Antisemitismus ist und was die Shoa mit dem heutigen Leben zu tun hat – ihnen folgen inzwischen bereits 1,9 Millionen Accounts.

Überlebende wollen aktiv sein

Dr. Mkayton spricht von einer überraschenden und ermutigenden Entwicklung. „Dies zeigt sehr gut das Bedürfnis der Überlebenden, aktiv zu sein, ihre Geschichten weiterzugeben und ihre Stimme zu hinterlassen. Und zwar genau die Stimme, die sie eben zurücklassen wollen – völlig unmanipuliert und ungefärbt von anderen Perspektiven.“

Der 87-jährige Israeli Gidon Lev und seine Lebensgefährtin Julie Gray (58) posten nahezu täglich auf Tiktok kleine Videos. Gray hat Levs Leben als „Gauner, Holocaust-Überlebender, Optimist“ aufgeschrieben, so der Untertitel des 2020 erschienen Buchs „The true Adventures of Gidon Lev“. Eigentlich wollte sie lediglich das Buch auf der Plattform promoten, weil Lesungen in der Pandemie nicht möglich waren. Doch daraus wurde mehr.

Gidon Lev, der als Kind im KZ Theresienstadt überlebt hat, erkannte, dass er viel Zuspruch erhält – die Beiträge sind millionenfach geliked. Die Kehrseite sind jedoch Hasskommentare, von Dummheit zeugende Reaktionen oder unverblümter Antisemitismus.

„Dagegen werde ich kämpfen“

Neben seinem Vater wurden 26 Angehörige von den Nazis ermordet. „Für sie“, sagt Gidon Lev, „muss ich widersprechen. Ich habe als Kind zu spüren bekommen, wie schnell aus grausamen Worten böse Taten werden. Und dagegen werde ich kämpfen, solange ich bin.“

Und widersprechen könnte Lev täglich. Julie Gray räumt ein: „Im Netz gibt es keinen Mangel an dummen, manchmal beleidigenden oder einfach nur traurigen Inhalten. Erst neulich ‚coverte‘ jemand einen von Gidons Tiktoks, indem er zeigte, wie er zum Ofen in seiner Küche ging und ihn auf Hochtouren drehte. Die beiläufige Grausamkeit hat mich umgehauen.“

Ihre Erkenntnis: „Wir können uns nicht mehr nur auf Museen oder Bildungseinrichtungen verlassen, wenn es darum geht, den Holocaust und seine Auswirkungen bis heute zu vermitteln, so sehr sie sich auch bemüht haben, die Menschen zu erreichen und einzubeziehen. Wir müssen dorthin gehen, wo die Menschen sind.“

Das verdiene Respekt meint Yad-Vashem-Expertin Mkayton. „Menschen der dritten oder vierten Generation sind oft nicht daran interessiert, sich einen stundenlangen Zeitzeugenbericht anzuhören, aber einen Tiktok-Film sehen sie sich an.“

Die Zeit drängt

Das Engagement auf Social-Media-Plattformen müsse unbedingt beobachtet und begleitet werden, meint die Bildungsdirektorin. „Wir als Pädagogen haben bestenfalls damit begonnen, uns damit auseinanderzusetzen, was das für uns bedeutet und inwieweit dies Einfluss haben wird auf die zukünftige Vermittlung des Holocaust.“

Wie sehr die Zeit drängt, Antworten zu finden, zeigt der Tod der Berliner Lyrikerin und Ärztin Rahel Mann. Von ihrem fünften bis zum achten Lebensjahr wurde sie von Nachbarn vor den Nazis versteckt, weil die Mutter als getaufte Jüdin Zwangsarbeit verrichten musste.

Rahel Mann starb drei Wochen nach den Aufnahmen für das Potsdamer Zeitzeugenprojekt im Alter von 84 Jahren. Sie wird nun für immer bleiben.

Von Thoralf Cleven/RND