Alle nannten sie nur Lola. Sie war sehr klein von Wuchs, hatte einen dunklen Teint und Mandelaugen. Lolas Tag begann, bevor alle anderen erwachten. Und er endete, nachdem alle ins Bett gegangen waren. Drei Mahlzeiten am Tag musste sie zubereiten, das Haus putzen, sich um die fünf Kinder kümmern. Bezahlt wurde sie dafür nie. Denn Eudocia Tomas Pulido, so der richtige Name der Frau, war die Haussklavin einer wohlhabenden philippinischen Familie.
Sie wurde der Mutter zum Geschenk gemacht
Als Lola 18 war, war sie der jungen Mutter zum Geschenk gemacht worden – vom Opa, der sich um seine überforderte Tochter sorgte. Und als die Familie aus Manila irgendwann in die USA auswanderte, nahmen sie Lola einfach mit, wie ein Gepäckstück oder einen Hund. Oft schlief die kleine Frau zusammengesunken über einem Haufen Wäsche, den sie zu falten hatte, in der Ecke eines Zimmers des weiträumigen Hauses ein. Ihr Dasein als Sklavin endete in der Neuen Welt erst, als sie mit 74 Jahren starb. In den USA als Sklavin – gut 150 Jahre, nachdem die Sklaverei offiziell abgeschafft worden war.
Lolas Geschichte, erschienen im Magazin „The Atlantic“, löste im von Sklaverei und Bürgerkrieg bis heute traumatisierten Amerika eine heftige Kontroverse aus. Und lenkte den Fokus so auf ein Thema, das die Menschheit eigentlich längst überwunden zu haben glaubte.
Berichte über prekäre Arbeitsverhältnisse im Gastgeberland Katar verhalfen dem Thema Sklaverei im Vorfeld der derzeitigen Fußballweltmeisterschaft zurück ins Bewusstsein der Menschen. Allein für den Bau der WM-Stadien wurden 30.000 Arbeiter eingestellt, die meisten aus Bangladesch, Nepal, Indien und den Philippinen. Das 2009 sogar in Gesetzesform gegossene Kafala-System, das Arbeiter zu Leibeigenen ihrer Arbeitgeber machte, wurde nach internationalen Protesten 2020 reformiert – geändert hat sich indes nicht viel.
Reformen in Katar nicht in der Realität angekommen
Einem Mitte November erschienenen Bericht der in London ansässigen Menschenrechtsorganisation Equidem zufolge werden die Reformen auf dem Arbeitsmarkt in der Realität vielfach ignoriert: Die aus Billiglohnländern stammenden Arbeiter seien Diskriminierung ausgesetzt gewesen, hätten ihre Löhne nicht bekommen und seien misshandelt und geschunden worden, heißt es da.
Die Erstautorin des Berichts, Namrata Raju, sagte, den Zuschauerinnen und Zuschauern sollte bewusst sein, dass die Stadien, in denen sie sitzen, unter Bedingungen entstanden, die man zumindest zum Teil als Zwangsarbeit oder Form der modernen Sklaverei bezeichnen könnte. Amnesty International und Human Rights Watch haben ähnliche Missstände dokumentiert. Tatsächlich schätzt man, dass es heute weltweit rund 40 Millionen Sklavinnen und Sklaven gibt. Die Dunkelziffer, bedingt durch Kriege und Massenflucht, liegt vermutlich höher. Die meisten modernen Sklavinnen und Sklaven leben unter noch erbärmlicheren Bedingungen als die Haussklavin einer wohlhabenden philippinischen Familie.
Katar hat Sklaverei sichtbarer gemacht
Was sich seit Katar „massiv verändert hat, ist ‚The Veil of Ignorance‘“, so der Wirtschaftswissenschaftler Christopher Münch, Forschungsgruppenleiter am Lehrstuhl für Supply Chain Management der Universität Erlangen-Nürnberg, „das heißt, das schiere Ausmaß der Entlarvung.“
Und seine Kollegin Evi Hartmann nennt als Beispiel die Toten auf den WM-Baustellen. „Der zuständige Minister gab sie im Medieninterview mit ‚drei‘ an. Einige Tage der weltweiten Empörung später erhöhte er auf 400 bis 500. Dann setzten Schätzungen von NGOs und Medien ein, die von bis zu 15.000 Toten ausgehen“, so die Autorin des Buches „Wie viele Sklaven halten Sie?“, in Deutschland die kompetenteste Stimme zu diesem traurigen Thema.
Und es gibt Wahrheiten, die werden gern verdrängt. Zum Beispiel jene, dass für jeden Menschen in Deutschland Sklaven arbeiten. „49 Sklaven arbeiten – Stand heute – für mich“, so Hartmann zum Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). Natürlich unbeabsichtigt.
„Für andere Mitbürger sind es vielleicht 75 oder 27, weil Sie einen anderen Warenkorb der Alltagsprodukte haben, die Sie kaufen. Deshalb sollte sich jeder aufgeklärte Mensch die korrekte Zahl seiner Sklaven ausrechnen lassen; zum Beispiel bei slaveryfootprint.org. Das dauert fünf bis zehn Minuten und würde fast Spaß machen, wenn es nicht so schlimm wäre“, so die Sachbuchautorin. Als „Top 5″ der „sklavenhaltigen“ Produkte zählen übrigens Konsumelektronik (Notebook, Handy, PC …), Kleidung, Fisch, Kakao und Zuckerrohr.
50 Millionen Opfer moderner Sklaverei
Die ILO (International Labour Organisation) meldet aktuell weltweit fast 50 Millionen Opfer moderner Sklaverei. „Rund 28 Millionen Menschen davon leisten Zwangsarbeit. Schockierende 6,4 Millionen dieser 50 Millionen sind in Europa und Zentralasien versklavt“, so der der Wirtschaftswissenschaftler Münch
Wobei die auch heute noch am weitesten verbreitete Form laut Hartmann „echte“ Sklaven sind, also eingesperrte Arbeiter. Daneben aber auch Zwangsarbeiter, also Menschen, die unter Androhung von Strafen zur Arbeit gezwungen werden. Man kann noch in weitere Formen differenzieren wie: politische Gefangene, Zwangsprostitution, Frauen- und Kinderhandel.
Das Schicksal der philippinischen Haussklavin Lola konnte so lange unentdeckt bleiben, weil es sich in einer Art Schattenreich inmitten einer US-Metropole abspielte. Dazu passt Franz Beckenbauers Satz, „Ich habe noch keinen einzigen Sklaven in Katar gesehen“, den er im Vorfeld der derzeitigen Fußballweltmeisterschaft geäußert hat. Moderne Sklaverei ist vielfach unsichtbar oder wird vertuscht. Dennoch steckt sie hinter vielen Produkten unseres täglichen Lebens, worauf Evi Hartmann hinweist.
In weltweit 167 Ländern werden Menschen in moderner Sklaverei gehalten
Doch Sklaverei gedeiht nicht nur im Schatten von Krieg oder massenhaften Migrationsströmen. Der Global Slavery Index der Walk Free Foundation listete zuletzt 2018 weltweit 167 Länder auf, in den Menschen in moderner Sklaverei gehalten werden. Allein zehn Millionen Kinder sind betroffen. Überwiegend müssen sie arbeiten, aber auch Zwangshochzeiten und sexuelle Ausbeutung spielen eine Rolle.
Ganz vorn dabei – Indien: 18,3 Millionen Menschen fristen im zweitbevölkerungsreichsten Land der Welt ein Dasein als Sklavinnen und Sklaven, viele davon in sogenannter Schuldknechtschaft von Geburt an. Indien ist der größte globale Granitproduzent, von dem 49 Prozent des weltweiten Rohsteinexports stammen. Drei Viertel der Granitproduktion wird in nur drei Bundesstaaten – Andhra Pradesh, Telangana und Karnataka – abgebaut.
Eine Untersuchung von 22 Steinbrüchen und sechs Abfallverarbeitungsstätten in diesen Staaten, die kürzlich von den niederländischen Organisationen India Committee of the Netherlands (ICN) und Stop Child Labour veröffentlicht wurden, enthüllte bei allen schwerwiegende Verletzungen der Menschenrechte in Bezug auf Sklaven- und Kinderarbeit. Viele Kinder, jünger als 14 Jahre, müssen als Folge von Schuldknechtschaft ihrer Eltern vor allem in der Steinverarbeitung schuften, wie die britische Zeitung „Guardian“ herausfand.
Was den Autor und Haussklavin Lola verband
Das Schicksal der von den Philippinen stammenden Haussklavin Lola – es wäre vermutlich nie bekannt geworden, hätte es nicht der Journalist und Pulitzer-Preisträger Alex Tizon, aufgeschrieben. Tizon selbst stammte nämlich von den Philippinen und war eines der Kinder, um das sich Lola zu kümmern hatte. Lolas Lebensgeschichte war auch Tizons.
Tragisch: Am Tag, als die Redaktion des Magazins „The Atlantic“ entschied, Lolas Geschichte auf dem Titel zu platzieren, starb der 57-jährige Autor Tizon eines natürlichen Todes. Welche Wellen die Geschichte „seiner Familiensklavin“ Lola schlug – er sollte es nie erfahren.
Von Harald Stutte/RND