Wieder einmal nicht krisenfest: die Bahn – landeszeitung.de

Gifhorn/Berlin. Am Gleis 14 des Berliner Hauptbahnhofs nimmt eine Reisende die ganze Sache mit Galgenhumor. „Selbst schuld, wenn man da fährt“, sagt die junge Frau, bevor sie ihren Zug nach Düsseldorf besteigt. Fast zwei Stunden mehr Fahrzeit muss sie einberechnen – notfahrplanmäßig. „Katastrophe“, schimpft ihr Begleiter. Dass seine Geduld arg strapaziert wird, lässt sich schon am Infopunkt neben den Rolltreppen erahnen. „Streckensperrung bei Wolfsburg“ steht auf einer weißen Tafel, die über Alternativen informiert und Passagiere auf manchen Umstieg einschwört. Denn wer in diesen Tagen vom Berliner Hauptbahnhof in Richtung Westen fahren will, muss flexibel sein – oder ganz umplanen.

Am Dienstag fuhren die Züge, also diejenigen, die nicht ausfielen, von Berlin Richtung Westen immerhin wieder größtenteils pünktlich. Pünktlich, das heißt jetzt: Nach Hannover, ins Ruhrgebiet und ins Rheinland sind die ICEs und ihre Reisenden nun fahrplanmäßig bis zu zwei Stunden länger unterwegs, bekommen dafür aber eine Rundfahrt durch die Altmark und die Rübenregion Niedersachsens geboten, inklusive Zwischenhalten in Stendal, Salzwedel und Uelzen.

Die Ursache ist zwei Wochen her

Von der Störung auf der Strecke haben die Düsseldorf-Reisende und ihr Begleiter in den Nachrichten erfahren. „Als ich das gelesen habe, dachte ich, das dauert vielleicht eine Woche“, sagt sie. Das es jetzt so viel länger ist, trifft bei ihr auf wenig Verständnis. Bis zum 16. Dezember, so hat es die Bahn angekündigt, werde die ICE-Strecke zwischen Hannover und Berlin „höchstwahrscheinlich“ gesperrt bleiben. Viele Tausend Fahrgäste aus der ganzen Republik mit Start oder Ziel Berlin müssen nun weitere drei Wochen ihre Pläne ändern. Fahrgäste, die ihre Reise verschieben möchten, können ihr Ticket laut der Bahn flexibel im Fernverkehr nutzen. „Reisenden wird je nach Abfahrts- oder Zielort in NRW empfohlen, Verbindungen mit Umstieg in Frankfurt bzw. Hamburg als mögliche schnellere Alternative zu prüfen“, teilte die Bahn weiter mit.

Die Ursache für das Dauer-Chaos am Berliner Hauptbahnhof ist schon fast zwei Wochen alt: Am 17. November war um 3.41 Uhr nachts nahe Leiferde im Landkreis Gifhorn in Niedersachsen ein Zug mit gefüllten Propangaskesseln auf einen auf dem Streckenabschnitt stehenden Güterzug aufgefahren. Seitdem ist die Hauptstrecke zwischen Wolfsburg und Hannover gesperrt. Und da auch auf den Umleitungsstrecken via Braunschweig gebaut wird, zuckeln die Hochgeschwindigkeitszüge nun auf dem eingleisigen Abschnitt zwischen Salzwedel und Uelzen über die einstige innerdeutsche Grenze.

Laut Fahrplan zwei Minuten für 40 Kilometer

Das führt zu weiteren Verzögerungen: Viele Minuten steckt am Dienstagmorgen der ICE 841 von Hannover nach Berlin vor Uelzen fest. „Vor uns ist Stau wegen eingleisiger Strecke“, sagt der Zugbegleiter durch. Die Fahrgäste starren teilnahmslos in den grauen Morgen. Kurz nach Uelzen gibt er die Ankunftszeit für Salzwedel durch. Nach einer Minute schaltet er sich erneut ein: „Laut Fahrplan sollen wir zwischen Uelzen und Salzwedel zwei Minuten brauchen. Das ist natürlich nicht ganz realistisch.“ Zwischen den beiden Bahnhöfen liegen gut 40 Kilometer Strecke.

Niemand lacht. Dass Fahrpläne realistisch sind, erwarten Bahnreisende schon lange nicht mehr. Gerade hat sich die Pünktlichkeitsquote der DB im Fernverkehr wieder knapp oberhalb von 60 Prozent eingependelt. Im Oktober waren 63,2 Prozent aller Fernzüge nicht mehr als fünf Minuten verspätet. Die wochenlange Sperrung auf einer der wichtigsten Hauptstrecken wird die Pünktlichkeitsquote höchstwahrscheinlich wieder abstürzen lassen.

Feuerwehren sind fertig mit ihren Arbeiten

An der Unfallstelle im Wald bei Meinersen gehen die Aufräumarbeiten aber immerhin zügig voran. 50 Tonnen Propangas fasst ein Güterwaggon. Mittels vierer riesiger mobiler Großfackeln wurde das Gas aus den Propangaskesseln abgefackelt, die Gasreste wurden dann mit Stickstoff herausgespült. Die Spezialisten der Werksfeuerwehren aus Marl, Ludwigshafen und Dormagen konnten ihren Einsatz am Freitagmittag vergangener Woche abschließen, berichtet Carsten Schaffhauser, Pressesprecher der Freiwilligen Feuerwehr der Samtgemeinde Meinersen, im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland. Die Freiwilligen Feuerwehren hätten im Anschluss die Einsatzstelle aufgeräumt, die dann am Samstagmittag an die Deutsche Bahn übergeben worden sei. Seitdem seien die Bahnteams im Gange. DB-eigene Schwerlastkräne mit den sprechenden Namen „Phoenix“ (160 Tonnen) und „Bulldog“ (100 Tonnen) sind nahe der Gleise im Einsatz.

Da die Feuerwehr am Montag noch einmal wegen eines Ölaustritts an der aufgefahrenen Lokomotive alarmiert worden sei, konnte Schaffhauser die Kraftpakete in Aktion sehen. „Da hing die Lok auch schon am Kran“, sagt der Feuerwehrsprecher, „und einige der Waggons waren auch schon weg.“ Definitiv gingen die Arbeiten zügig voran, so Schaffhausers Einschätzung.

Gleisbett und Oberleitungen komplett zerstört

Ein Besuch an der Unglücksstelle ein paar Tage zuvor ließ ahnen, welche Kräfte wirkten, als die beiden Güterzüge aufeinanderprallten. Der Ort mitten im Wald sah aus wie ein Schlachtfeld, so als habe der liebe Gott auf dem Gleis alle Neune gekegelt. Die gewaltigen Waggons mit ihren Gaskesseln lagen ineinandergeschoben auf der Seite, Radstände waren brutal herausgerissen, links davon schaute über die Waggonwracks des anderen Frachtzugs die grüne „Nase“ der aufgefahrenen Lok. Ein Anwohner soll das Geräusch gehört haben, als die Züge zusammenprallten. Es habe sich angehört wie das Zusammenschlagen riesiger Blechdosen, erzählt ein Feuerwehrmann vor Ort.

So weit das Auge reicht – und viel von dem Desaster blieb dem Auge noch durch die hingeworfenen Züge verborgen – ist das Gleisbett total zerstört, die Schienen beschreiben eine Kurve, wo die Strecke gerade sein müsste, die Oberleitungen sind auf Hunderte Meter zerstört. Dass dem Lokführer des aufgefahrenen Zuges so gut wie nichts passiert ist, nimmt wunder.

Vergangene Woche kam auch der niedersächsische Innenminister bei den Helfern vorbei. „Großartige Arbeit, großartiges Zusammenspiel, ganz großes Kino“, bescheinigt Boris Pistorius (SPD) allen Feuerwehren. Schon die Gefahrenabwehr, die zu Beginn geleistet worden sei, sei vorbildlich gewesen.

Kürzere Umleitungsstrecken sind nicht elektrifiziert

Alles andere als vorbildlich wirkt das Krisenmanagement der DB. Unfälle können passieren, das ist nicht der Kritikpunkt. Die Schuldfrage in diesem ist noch nicht abschließend geklärt. „Die Ermittlungen, wie es genau zu dem Unfall kam, laufen derzeit auf Hochtouren, um am Ende der Staatsanwaltschaft übergeben zu werden“, sagt ein Bundespolizei-Sprecher dem RND. Zwei Züge auf einem Streckenabschnitt – das sieht stark nach menschlichem Versagen aus.

Auch dass die Aufräumarbeiten lange dauern, ist nachvollziehbar. 30 bis 40 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Bahn und Technischem Hilfswerk sind jetzt an der Strecke im Einsatz. „Die ineinander verkeilten Wagen zu lösen war Millimeterarbeit“, sagt ein Bahnsprecher. Der 16. Dezember wird angepeilt und ist vermutlich auch ausreichend.

„Für uns ist unverständlich, wieso die Sperrung noch so lange dauern soll“, kritisiert Daniela Morling vom Netzwerk „Die Güterbahnen“, einem Zusammenschluss privater Cargo-Bahnbetreiber. „Es hieß, dass die Wiederherstellung von Oberbau und Oberleitung nach Beräumung der Unfallstelle vielleicht zwei Tage dauert – das wäre üblich. Vielleicht möchte die DB die Umleiterverkehre offiziell so lange weiterlaufen lassen, um auf jeden Fall früher und nicht später als angekündigt wieder freizugeben“, glaubt Morling. Auch Güterzüge müssen teils extreme Umleitungsstrecken fahren, das führt zu starken Verspätungen und höheren Betriebskosten. Kürzere Umleitungsstrecken können nur mit Dieselloks befahren werden, da sie nicht elektrifiziert sind.

Ein Grund: Jahrelange Vernachlässigung

Grund für die teils stundenlangen Verspätungen ist einerseits Terminpech – und zweitens jahrelange Vernachlässigung. Und hier beginnen die hausgemachten Probleme des Systems Bahn in Deutschland zu wirken. Denn eigentlich könnten die Züge zwischen Berlin und Hannover nur mit geringer Verspätung die Unfallstelle umfahren – wenn nicht gerade in der Region an zwei Ausweichstrecken zugleich gebaut würde. Zwischen Braunschweig und Wolfsburg ist die sogenannte „Weddeler Schleife“ gesperrt, weil hier nach 20 Jahren nun doch ein zweites Gleis verlegt wird. Und auch zwischen Braunschweig und Magdeburg ist aktuell die Strecke dicht. Deswegen fallen seit dem Unfall die Intercity-Züge von Leipzig nach Hannover ganz aus und sorgen für Frust bei Reisenden in Sachsen und Sachsen-Anhalt.

Fast zwei Wochen dauerte es, bis die ICE-Umleitung über Salzwedel in die Online-Fahrplanauskunft eingetragen wurde. „Die Informationspolitik der DB ist katastrophal“, beklagt der Ehrenvorsitzende des Fahrgastverbands Pro Bahn, Karl-Peter Naumann, gegenüber dem RND. „Die Bahn muss einen Notfallfahrplan aufstellen und den konsequent fahren. Dann gibt es zumindest Verlässlichkeit. Aktuell aber herrscht Chaos.“

Nun räche sich zudem, dass die Verbindung Uelzen-Salzwedel nicht früher ausgebaut wurde. Auch hier soll bis 2030 ein zweites Gleis liegen. Doch 2025, also weit vor Abschluss der Arbeiten, muss die Strecke wieder als Umleitung für die dann wegen Generalsanierung gesperrte Schnellfahrstrecke Hamburg-Berlin dienen. Besser als jetzt dürfte es auch dann nicht werden.

Herausforderungen durch Hochleistungskorridore

„Die Konzentration auf Hauptnetze ist einfach zu wenig“, kritisiert Güterbahnen-Sprecherin Morling, „wie wir auch im Zuge der Generalsanierung immer wieder verdeutlichen“.

Die Generalsanierung ist das Vorzeigeprojekt von Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) und Bahnchef Richard Lutz. Die am stärksten belasteten Strecken sollen zu Hochleistungskorridoren werden. Doch nicht wenigen Verkehrspolitikern graut es bereits vor der Bauphase – weil Ausweichstrecken fehlen oder nicht belastbar sind. Der SPD-Bundestagsabgeordnete Martin Kröber sagt dem RND: „Gerade die geplanten Hochleistungskorridore stellen Infrastruktur und Betrieb vor gewaltige Herausforderungen. Uns fehlen Umläufe rund um Baustellen und Unfallstellen. Die Bahn hat seit der Ära Mehdorn so viele Weichen aus dem Betrieb genommen, dass Züge nicht mehr so einfach umgeleitet werden können.“

Der ICE 841 auf seinem morgendlichen Weg durch die Altmark erreicht irgendwann, befreit von seinem illusorischen Fahrplan, die Baumkuchenstadt Salzwedel. „Hier gibt es keinerlei Anschlusszüge“, gibt der Zugbegleiter bekannt.

Von Matthias Halbig, Johanna Apel, Jan Sternberg/RND