Am Feuerwehrhaus der Samtgemeinde Meinersen steht der alte Leitspruch „Gott zur Ehr, dem Nächsten zur Wehr“. Derselbe Satz, der auf dem nahegelegenen Waldbrandgedenkstein zu lesen ist, der an ein Großfeuer erinnert, bei dem am 10. August 1975 fünf Feuerwehrleute von Flammen eingeschlossen wurden und starben. Dieser Tage findet in der Gegend wieder ein Großeinsatz vieler Feuerwehreinheiten statt. Diesmal ist man vereint im Kampf gegen die Folgen eines Zugunglücks.
Noch drei Wochen Sperrung? Das erscheint lange
Am Donnerstag vergangener Woche war um 3.41 Uhr nachts nahe Meinersen ein Zug mit gefüllten Propangaskesseln auf einen auf dem Streckenabschnitt stehenden Güterzug aufgefahren.
Bis zum 16. Dezember, so hat es die Bahn angekündigt, werde die ICE-Strecke zwischen Hannover und Berlin „höchstwahrscheinlich“ gesperrt bleiben. Viele tausend Fahrgäste aus der ganzen Republik mit Ziel Berlin müssen nun weitere drei Wochen ihre Pläne ändern. Fahrgäste, die eine Reise für den Zeitraum zwischen dem 18. November und dem 16. Dezember geplant haben und nun verschieben möchten, können ihr Ticket laut der Bahn flexibel im Fernverkehr nutzen. „Reisenden wird je nach Abfahrts- oder Zielort in NRW empfohlen, Verbindungen mit Umstieg in Frankfurt bzw. Hamburg als mögliche schnellere Alternative zu prüfen“, teilte die Bahn weiter mit. Aber warum dauert das so lange?
Schienen, Gleisbett und Oberleitungen sind zerstört
Wer sich der Unglücksstelle nähert, ahnt zumindest, welche Kräfte wirken, wenn zwei Güterzüge aufeinander prallen. Der Ort mitten im Wald sieht aus wie ein Schlachtfeld, so als habe der liebe Gott auf dem Gleis alle Neune gekegelt. Die gewaltigen Waggons mit ihren Gaskesseln liegen ineinandergeschoben auf der Seite, Radstände sind brutal herausgerissen, links davon schaut über die Waggonwracks des anderen Frachtzugs die grüne „Nase“ der aufgefahrenen Lok. Ein Anwohner soll das Geräusch gehört haben, als die Züge zusammenprallten. Es habe sich demnach angehört, wie das Zusammenschlagen riesiger Blechdosen, erzählt ein Feuerwehrmann vor Ort.
So weit das Auge reicht – und viel von dem Desaster bleibt dem Auge noch durch die hingeworfenen Züge verborgen – ist das Gleisbett total zerstört, die Schienen beschreiben eine Kurve, wo die Strecke gerade sein müsste, die Oberleitungen sind auf Hunderte Meter zerstört. Dass dem Lokführer des aufgefahrenen Zuges so gut wie nichts passiert ist, nimmt Wunder.
Der stehende Zug hatte seine tonnenschwere Fracht entleert
„Wäre das Papier noch in den Waggons gewesen, dann wäre das anders ausgegangen, dann wäre das wie ein Prellbock gewesen“, sagt Feuerwehr-Pressesprecher Carsten Schaffhauser. Der Zug hatte seine Fracht von 90 Tonnen Papier pro Waggon vor dem Aufprall bereits entladen.
Weitere Spekulationen, wie wohl dieselbe Situation mit einem ICE gewesen wäre oder wenn das Auffahrunglück statt inmitten des Waldstücks innerhalb einer Ortschaft stattgefunden hätte, bleiben unbeantwortet. Alle sind unaufgeregt und freundlich an der Unfallstelle, aber bitte keine Konjunktiv-Auskünfte – es ist nun mal, so sagt ein Feuerwehrmann, wie es ist.
Nur noch eine Fackel hat eine große Flammenzunge
Aber wie es ist? Nur noch drei der vier riesigen mobilen Großfackeln, die mit je einem Gaswaggon verbunden sind, sind in Betrieb. Einer der vier Kessel die je 50 Tonnen flüssiges Propangas in sich führten, ist bereits leergepumpt. Zwei Fackelfeuer liegen erkenntlich in den letzten Zügen, ihre Flammen sind bläulich und eher schwach. Eine Fackel aber prustet noch eine spektakuläre gelborangene Feuerzunge in den grau bewölkten Himmel.
Eine Tonne gasförmiges Propan verbrenne so ein Gerät pro Minute, sagt Michael Gose von der Feuerwehr Gifhorn, der stellvertretende Leiter der Kreispressestelle. Der lodernden Fackel zur Seite stehen Mitglieder der Freiwilligen Feuerwehren mit einem Schlauch, der 3000 Liter Wasser in der Minute abgeben kann – beispielsweise für den unwahrscheinlichen Fall der Fälle, dass Flüssiggas statt gasförmigem Propan in die Fackel gerät. Dann, so Carsten Schaffhauser, gäbe es jäh einen gewaltigen Feuerball.
Die Waggons konnten nur bis zur Hälfte abgepumpt werden
Ein Problem bei der Bewältigung des Unfalls war in den vergangenen Tagen die ungünstige Lage der Gaskessel. „Steht ein Kesselwaggon senkrecht, wird er über die unten liegenden Ventile entleert“, sagt Schaffhauser. „Aber die Waggons lagen quer, die Ventile waren damit auf halber Höhe, so konnten sie auch nur bis zur Hälfte abgepumpt werden.“ Im freigewordenen Raum innerhalb der Kessel wurde das flüssige Gas daraufhin gasförmig. Deshalb das Abfackeln.
Die eiskalten Temperaturen zu Wochenbeginn erschwerten dann die Arbeit der Feuerwehrleute. „Durch die Kälte wird das Gas träge“, erklärt Jochen Fries, Brandoberingenieur der Werksfeuerwehr von Evonik Industries im Chemiepark Marl. Und so musste man es über zwei „Hotmobiles“, die Carsten Schaffhauser als „riesige Durchlauferhitzer“ bezeichnet, wieder beschleunigen. Auf 70 Grad erhitztes Wasser wurde seither permanent über die Waggons gegossen. Die dicken Schläuche, die auf den Kesseln liegen, erinnern an Rasensprenger in riesengroß. Aus zahllosen Düsen ergießt sich daraus das heiße Wasser.
Der Minister kommt zu Besuch: „Großartige Arbeit“
An diesem Nachmittag kommt auch der niedersächsische Innenminister bei den Helfern vorbei. Er wolle sich „ein Bild von der Lage verschaffen und allen Einsatzkräften danken“ sagt Boris Pistorius (SPD) und wird zu den Wracks geführt, vorbei an dem Spezialwagen mit Stickstoff, um den herum sich im Moos ein kleiner weißer Nebelteppich gebildet hat. Mit dem Stickstoff wird am Ende „iterativ“, so erklärt es Jochen Fries, die restliche Gassphäre in den Waggons beseitigt.
„Großartige Arbeit, großartiges Zusammenspiel, ganz großes Kino“, bescheinigt der Minister allen Feuerwehren. Schon die Gefahrenabwehr, die zu Beginn geleistet worden sei, sei vorbildlich gewesen. Auch Samtgemeindebürgermeisterin Karin Single, die Pistorius begleitet, betont den nimmermüden Einsatz seit einer Woche: „Ich bin stolz auf das, was all die Ehrenamtlichen geleistet haben. Von Anfang an. Alle wurden alarmiert, sicherten das Gelände mitten in der Nacht, holten sich sofort die nötige Expertise, waren Tag und Nacht im Einsatz.“
Spezialfeuerwehren haben sich den Unglücksort „aufgeteilt“
Die Expertise kam umgehend – nicht nur aus Marl, sondern auch aus Ludwigshafen und Dormagen. „Wir sind zuständig für alles, was rummst, kracht und giftig ist“, beschreibt Jochen Fries mit einem Lächeln das Einsatzfeld seiner Kolleginnen und Kollegen. Die Leute von der Evonik-Werksfeuerwehr sind im Auftrag des Transport-Unfall-Informations- und Hilfeleistungssystems (TUIS) der chemischen Industrie von Marl nach Meinersen gekommen, mit Spezialgerätschaften und Know-how, über die normale Feuerwehren nicht verfügen.
Mit den Kollegen von BASF und Bayer haben sich die Marler die Unglücksstelle „aufgeteilt“. Im Schichtbetrieb sind seither immer rund 20 Mitglieder der Freiwilligen Feuerwehren und der Spezialkräfte im Einsatz – dazu Personal von Bundespolizei, Technischem Hilfswerk und Deutschem Roten Kreuz.
Eine Explosionsgefahr bestand zu keinem Zeitpunkt
„Ein Kesselwagen war undicht“, sagt Fries. „Das habe ich zum ersten Mal in 15 Jahren erlebt.“ Normalerweise seien diese Behältnisse sehr stabil, „überlebten“ selbst einen solchen Unfall. Offenbar sei die Stauchung zu stark gewesen, die Gefahr aber trotz des Lecks allzeit beherrschbar. Selbst bei einer Funkenzündung hätte es bei dem undichten Kessel keine Explosion gegeben, versichert Fries, sondern nur eine Flamme. Druck müsse sich in einem solchen Kessel schon über lange Zeit aufbauen, bevor es ihn zerreiße.
Erst im September war Fries in der Region gewesen – als in Seelze bei Hannover bei einem Rangierunfall ein Kesselwagen mit Salpetersäure umkippte. Damals ging alles gut, auch in Meinersen sieht Fries „Licht am Ende des Tunnels.“ Die Feuerwehren rechnen damit, dass ihr Einsatz an diesem Wochenende abgeschlossen wird.
Zwei Schwerlastkräne auf Schienen bergen die Waggons
Spätestens zu Wochenbeginn, Montag oder Dienstag, sobald die Wehren ihre Schläuche eingerollt haben, wird dann die Deutsche Bahn mit ihren Arbeiten beginnen. Mit einem 100-Tonnen- und einem 160-Tonnen-Schienenkran will man sich dem Unglückort von beiden Seiten nähern, um die Wracks bergen und abtransportieren zu können. „Phoenix“ und „Bulldog“ stehen dafür schon in Lehrte bereit. Auch Abschleppwagen und Dieselloks sind organisiert. Noch nicht sicher ist der Einsatz eines weiteren 120-Tonnen-Schwerlastkrans, der über die Waldwege zum Einsatzort gebracht werden müsste.
Die Instandsetzung ist nach Auskunft der Experten äußerst aufwendig. Mit den Reparaturen an der Oberleitung sowie am Gleisbett kann man erst starten, wenn die Aufräumarbeiten abgeschlossen sind. Der Schaden an der Leit- und Sicherungstechnik kann überhaupt erst begutachtet werden, wenn die Unfallstelle geräumt ist, weil die umgekippten Wagen auf den Kabelkanälen liegen.
Aus den Waldwegen wurde ein belastbares Wegenetz
Aus den Waldwegen hat die Bahn seit dem Unglück ein belastbares Wegenetz gemacht, auf dem die vielen Einsatzfahrzeuge gut manövrieren können, über das schließlich auch der Monsterkran herbeigeschafft werden könnte. Noch immer laden große Lastwagen am Donnerstag ihre Schotterladungen ab. 3000 Tonnen wurden bisher verbaut.
„Wir haben sämtliches Mineralgemisch in der Gegend zusammengekauft“, sagt Markus Grimm. Leiter der DB-Instandhaltung Hannover. Schienen, Joche (Schwellen mit vormontierten Schienen), Masten, Schotter und sonstige Materialien zur Instandsetzung liegen bereits aufgestapelt ein Stückweit hinter den Zugwracks am Bahndamm. Die Bergungs- und Instandsetzungskräfte scharren quasi mit den Hufen. „Die warten nur auf unser ‚Go!‘“, sagt Schaffhauser. Ganz ähnlich wie die vielen Fahrgäste, die nun über stundenlange Umwege reisen müssen.
Zwar müsse erst das „Schadbild komplett aufgenommen, das Havariefeld inspiziert“ werden, aber auf eine Wiederaufnahme des Betriebs am 16. Dezember wolle man „mit aller Intensität“ hinarbeiten. Es beginnt zu regnen. Feuerwehrsprecher Michael Gose von der Freiwilligen Feuerwehr Gifhorn blickt zum Himmel: „Wir hatten eigentlich gehofft, unsere Sachen im Trockenen einräumen zu können“, sagt er. „Das wird uns wohl nicht vergönnt sein.“
Schuldfrage ungeklärt
Auf eine Diskussion zur Schuldfrage will sich Michael Körber, der Leiter Betrieb Nord der DB Netz am Einsatzort nicht einlassen. Die Ursache des Unglücks sei Gegenstand von Ermittlungen, die Deutsche Bahn unterstütze die Behörden dabei. Mehr gebe es diesbezüglich nicht zu sagen.
Beschwerden hätte es zuletzt aus den naheliegenden Dörfern über die ziemlich laute größte der vier mobilen Fackeln gegeben, so dass man sie am Vorabend abgeschaltet habe. Das Gafferproblem sei über die Tage „minimal“ gewesen, sagt Michael Gose. Die üblichen betrüblichen Unglückstouristen seien der Stelle überraschend fern geblieben.
Einer der Kollegen von Gose und Schaffhauser berichtet über Leute, die ihn gefragt hätten, ob die Wege hinterher denn auch wieder hergestellt würden. „Denen haben wir gesagt, dass die Wege jetzt überhaupt erst hergestellt worden seien. Vorher“, sagt er, „war das ja nur Matsch“.
Von Matthias Halbig/RND