Ungefilterte Bilder, ganz ohne Glanz und Glamour, dafür aber authentisch? Ein Raum im Internet, in dem es keine hitzigen Diskussionen über polarisierende Themen, sondern ausschließlich Komplimente und gute Vibes gibt? Dafür sind Social-Media-Plattformen eigentlich nicht gerade bekannt. Dennoch ziehen zwei Apps immer mehr Menschen in ihren Bann, die genau diese Werte verkörpern: Die App Bereal, die als Gegenstück zu Instagram gilt und in der Userinnen und User folglich keine hochgradig bearbeiteten Bilder, sondern eher spontan geknipste Fotos mit lustigen Gesichtsausdrücken posten. Und der neue, zunächst noch exklusiv in den USA verfügbare Hit Gas, der sich an Highschool-Schülerinnen und ‑Schüler richtet. Die Nutzenden machen sich hier anonym Komplimente und können anhand dezenter Hinweise nach und nach herausfinden, von wem sie heimlich verehrt werden.
Andere Menschen sehnen sich jedoch nach mehr von dem, was in vielen gängigen Social-Media-Kanälen ohnehin schon problematisch ist: ungefilterter Hass und Hetze. Auch für sie gibt es Plattformen, in denen sie ihren Ansichten freien Lauf lassen können: Etwa Parler, das der umstrittene US-Rapper Kanye West alias Ye kaufen will, und Donald Trumps in diesem Jahr erschienenes Truth Social. Letztere ist bislang noch nicht in Deutschland verfügbar, doch Parler wird auch im deutschsprachigen Raum genutzt. Sie gelten als Netzheimat für viele Rechtsextreme und Verschwörungstheoretiker, die teilweise von Plattformen wie Twitter und Facebook verbannt wurden und sich nun weitgehend ohne Moderation miteinander austauschen können.
Medienforscher über soziale Netzwerke: „Die einen wollen schimpfen, die anderen suchen nach mehr Positivität“
Neue oder alternative soziale Medien scheinen sich also in ganz verschiedene Richtungen zu bewegen: Einige Plattformen werben mit einem friedlichen und freundlichen Ort, andere mit einem Raum, in dem Gleichgesinnte ohne Abstrafung ihren Hass zum Ausdruck bringen können. Eine Entwicklung, die sinnbildlich für die unterschiedlichen Erwartungen steht, die Menschen an soziale Netzwerke haben. „Nutzerinnen und Nutzer suchen meist Plattformen, die für sie angenehme Umgebungen sind und in denen sie einen Teil ihres Alltags verbringen möchten. Die einen wollen schimpfen, die anderen suchen nach mehr Positivität“, betont der Medienforscher Jan-Hinrik Schmidt vom Leibniz-Instituts für Medienforschung/Hans-Bredow-Institut in Hamburg.
Bereal, Gas, Truth Social und Parler geben somit immer mehr Menschen das, wonach sie suchen – und bei Facebook, Instagram, Twitter und Co. offenbar nicht finden können. Wer etwa nach einem freundlichen Miteinander strebt, hatte dort in den vergangenen Jahren womöglich weniger Freude: Wo einst primär die Inhalte von Freunden, Familie und Bekannten zu sehen waren, haben die Algorithmen der Netzwerke laut Schmidt zunehmend konfrontative politische Themen in den Feed ihrer Nutzerinnen und Nutzer gespült – und das wirke auf viele Menschen sehr abschreckend. „Die großen sozialen Netzwerke sind für viele Menschen zu Räumen geworden, zu denen sie keine große Bindung haben. Manche stören sich beispielsweise auch an der Art und Weise, wie man sich auf Instagram selbst präsentiert“, sagt er.
Und auch für diejenigen, die soziale Netzwerke schon immer dafür genutzt haben, um wutentbrannt ihre Ansichten preiszugeben, ist die Situation in vielen beliebten Plattformen zunehmend schwieriger geworden: „Große soziale Netzwerke wie Facebook und Twitter wurden in den letzten Jahren aus gutem Grund stärker in die Verantwortung genommen – Inhalte werden dort nun besser reguliert und moderiert. Nun suchen Leute aber zunehmend Räume, wo es keine ausgeprägte Inhaltsmoderation gibt“, sagt Schmidt. Genau das bieten Netzwerke wie Truth Social und Parler – und aus diesem Grund zögerte etwa der Google Play Store, in dem Apps für Android-Handys heruntergeladen werden, die Plattformen in seinen Katalog aufzunehmen. Inzwischen hat Google sie jedoch zugelassen, weil die Verantwortlichen der Apps die Moderationsrichtlinien überarbeitet haben.
Facebook, Instagram und Twitter verlieren aktive Nutzerinnen und Nutzer
„Die grundlegende Frage bei Social-Media-Plattformen ist: Erreiche ich dort meine für mich wichtigen Bezugsgruppen und sind dort die Themen vertreten, die für mich relevant sind?“, sagt Schmidt. Genau das scheint bei den großen sozialen Netzwerken für viele Menschen nicht mehr der Fall zu sein – und das zeigen auch ihre Nutzungszahlen. Facebook verzeichnet laut Statista seit Jahren immer weniger Nutzende in Deutschland, Instagram verlor der Befragung Social-Media-Atlas 2021 zufolge im vergangenen Jahr bei den Teenies erstmals Marktanteile – und die Nachrichtenagentur Reuters berichtete jüngst unter Berufung auf interne Twitter-Dokumente, dass die Plattform einige ihrer zuvor aktivsten Userinnen und User verliert.
Aktuell bringt unter anderem und vor allem die Video-App Tiktok die Vorherrschaft der zuvor dominanten Plattformen ins Wanken, die besonders bei Jüngeren beliebt ist. In Deutschland verbringen einer im August veröffentlichten repräsentativen Jugenddigitalstudie der Postbank zufolge mehr als drei Viertel der 16- bis 18-Jährigen regelmäßig Zeit auf Tiktok. „Wir beobachten zum einen Netzwerkeffekte: Große Gruppen an Menschen wandern nach und nach zu einem sozialen Netzwerk, das folglich zu einer dominanten Plattform wird. Zum anderen gibt es aber auch Plattformen, deren innovative Funktionalitäten nur für kleinere Szenen oder Gruppen ansprechend sind“, sagt Schmidt.
Social-Media-Innovationen: „Wichtig, dass wir aufmerksam bleiben“
Der Experte kann sich vorstellen, dass es eine zunehmend größere Auswahl an solchen kleineren Nischennetzwerken geben wird. Und damit gehen auch Herausforderungen einher – beispielsweise die Regulierung von Inhalten. „Man muss zwar nicht jede Social-Media-Innovation unter Generalverdacht stellen. Aber es ist wichtig, dass wir aufmerksam bleiben und reagieren, wenn sich in Plattformen demokratiegefährdende Szenen bilden“, sagt er.
Auch deshalb ist die Entstehung von Kanälen wie Truth Social und Parler besorgniserregend. Desinformationen und Fakten werden hier wegen der mangelhaften Moderation oft kaum voneinander getrennt – und auch krude Verschwörungstheorien und antisemitische Ansichten werden hier verbreitet. „Bedenklich werden diese Echokammern dann, wenn der Austausch der Gleichgesinnten in eine Radikalisierungsspirale mündet – und das in einem Ort, wo es keine Moderation gibt“, warnt Schmidt.
Truth Social und Parler zählen wie Bereal und Gas im Gesamtvergleich zwar noch zu den relativ kleinen sozialen Medien. Dass aber die derzeit dominierenden Social-Media-Plattformen von neuen Kanälen ins Wanken gebracht werden oder abgelöst werden, sei laut Schmidt aber nur eine Frage der Zeit. Dafür gibt es mehrere Gründe. „Junge Menschen werden immer ein Bedürfnis nach Distinktion haben – sie möchten nun mal nicht dort hingehen, wo die Eltern sind“, erklärt Schmidt. Manchmal lösten auch einschneidende Erlebnisse oder Ereignisse eine Abkehr von bestimmten Plattformen aus – das sehe man beispielsweise gerade bei Twitter. Im Zuge der Übernahme durch Elon Musk kündigten bereits einige Nutzerinnen und Nutzer an, Twitter nicht mehr nutzen zu wollen und auf Alternativen wie Mastodon zurückzugreifen. „Gleichzeitig könnten durch den Eigentümerwechsel aber auch einige der Menschen zurückkommen, die die Plattform zuvor verlassen hatten, weil sie sich nun mehr Toleranz für radikale Ansichten erhoffen“, sagt Schmidt.
Von Ben Kendal/RND